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Ein letzter Blick auf die Meisterurkunde, bevor er sie wieder an die Wand hing. Nach all den Jahren der Mühe; und wofür?
"Was erwarten Sie nun von uns Herr Jenich?" hatte ihn der Personalchef von Krauss-Maffei gefragt, als er seinen Meisterbreif als Maschinenbauer vorgelegt hatte.
Veränderungen, hatte er gedacht; "weiß nicht" aber nur gesagt.

Mit einem leichten Zug schloss er die Wohnungstür hinter sich. Kaum war auch die weiße Tür des Mehrfamilienhauses hinter Mark zugefallen, scheuerten die ungewohnten Riemen unangenehm an seinem Hals. Also warf er den Rucksack von seinen Schultern und setzte sich auf die unterste Stufe der Steintreppe vorm Haus.
Liegt es an dem Rucksack oder an meiner Empfindlichkeit, fragte er sich bekümmert, wie er mit dieser nicht eingeplanten Belastung klar zu kommen gedachte.
"Zu schwer", murmelt er leise vor sich hin, gerade, als Fräulein Salbei an ihm vorbei drängelte.
"Sagt ausgerechnet der, dessen breiter Hintern die gesamte Treppe sperrt", nörgelte diese enttäuscht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie Mark immer für einen vollendeten Kavalier gehalten. Schließlich war er der Einzige im Haus, der sich, ihres Wissens nach, noch niemals über ihren ausladenden Hintern ausgelassen hatte.
"Rassist!" schimpfte sie deshalb wütend und wanderte, die schwarze Lockenpracht auf ihren Kopf wild hin und her schwingend, nach links in Richtung Bahngleise davon.
Mark schaute sich verwirrt um. Wen hatte Frau Salbei denn nun wieder als Neonazi entlarvt? Da er niemanden entdeckte, der auch nur annähernd verdächtig genug wirkte, wandte er sich wieder seinem Rucksack zu. Mühsam entknotete er die Verschnürung des wasserdichten Beutels zwischen seinen Beinen. Ein Blick ins Innere ließ ihn erschrocken zurückfahren.
"Aha!" rief er laut und lachte aus vollem Hals, "erwischt mein Freund."
Franz, der immer wieder für Ordnung im Haus sorgen musste, wie er behauptete, ließ vor Schreck die Tageszeitung fallen.
"Ich wollte die nicht klauen", rief er kleinlaut hinter der Haustür, an der vorbei er noch immer seinen nun ins Nichts greifenden Arm nach Draußen in Höhe des Briefkastens von Frau Salbei hielt.
"Ich wollte sie nur der Schwarzen auf die Fußmatte legen", äffte daraufhin die krächzende Stimme der alten Klee aus dem kleinen Fenster des Gästekloraums ihrer Wohnung.
Mark schaute kurz nach rechts, fühlte sich aber nicht wirklich angesprochen. Was gingen ihn die Zankereien der Nachbarn an, die, genau genommen, seit zehn Minuten nicht mehr seine Nachbarn waren.
Vorsichtig sah er sich um, bevor er das schwere Päckchen herausnahm. Verflixt, dachte er, warum habe ich nicht eher daran gedacht? Was mache ich jetzt damit? Zurückgeben geht ja wohl kaum.
Fräulein Salbei kam langsam auf ihn zu.
Auch das noch.
Was sitzt der Blödmann denn immer noch da? fragte sie sich und entdeckte das kleine Paket in seinem Schoss. Das ist doch ...,dachte sie erstaunt und wollte Mark fragen, als dieser plötzlich aufsprang. Nur mit Mühe und beiden Händen hielt er das Paket an seiner Schnur.
Ich schicke es weg. Mir voraus. Irgendwohin. Hätte mir auch eher einfallen könne, kritisierte Mark sich selbst. Schnell bückte er sich nach seinem Rucksack und machte sich auf den Weg zur Post. Unterwegs, so nahm er sich vor, werde ich ein erstes Ziel für meine Wanderschaft festlegen. Seinem Vorsatz, ohne Zielsetzung loszuwandern, hatte er soeben eine Absage erteilt. Ging ja nun nicht mehr. Hätte er das blöde Ding doch nie mitgenommen.
"Alles Gute, Fräulein Salbei", sagte er im Vorbeigehen.
"Ihnen auch", rief diese irritiert zurück. "Gehen Sie fort?"
"Ja."
"Wohin?"
"Weiß nicht."
"Kommen Sie wieder?"
"Vielleicht."

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"Ich weiß, wo es geblieben ist", keuchte Fräulein Salbei um Luft ringend, kaum das Jo sich mit seiner nasalen Stimme meldete.
"Darling, bleib wo du bist. Ich bin gleich bei dir", brüllte dieser, dass Fräulein Salbei beinahe das Telefon hätte fallen lassen.
"Ja, ist gut." Sie legte den Hörer auf und starrte auf ihre zittrigen Hände. Hoffentlich habe ich jetzt keinen Fehler gemacht, dachte sie beunruhigt. Für ihren Geschmack war Jo viel zu sehr hinter dem Teil her. Wenn er das Ding hat, lässt er mich wahrscheinlich wie eine zu heiße Tasse Schokolade fallen, versank Fräulein Salbei von ironischer Selbstkritik in eine tiefe Traurigkeit.

"Oh Darling, wie ich dich die letzten zwei Tage vermisst habe", säuselte er ihr ins Ohr und presste sich an ihre Brüste. Noch bin ich scharf auf dich, dachte Jo, aber immer so viel Masse wäre mir auf Dauer doch zuviel.
"Und, wo ist das Ding?" fragte er, nachdem sie beide sich seiner Meinung nach genug abgeschleckert hatten. Dass er nicht sofort mit dieser Frage ins Haus getrampelt war, verdankte er seiner langen Erfahrung mit Frauen. Immer erst die Frau, dann das Objekt der Begierde. Ansonsten werden die dummen Weiber zu schnell misstrauisch.
"Das weiß ich jetzt auch nicht so genau", enttäuschte sie ihn. Bleib ruhig, dachte Jo, vielleicht ist das ein Test oder so.
"Mark hat es. Du weißt, mein Nachbar gegenüber."
"Woher weißt du ...?" erschrocken starrte er sie an. "Hast du etwa mit ihm darüber geredet?"
"Nö, ich bin ja nicht ganz blöd", maulte Fräulein Salbei und zwinkerte heftig mit den Wimpern. Sehe ich anders, dachte Jo und grinste.
"Ich hab das Päckchen bei ihm gesehen."
"Und du bist dir sicher?" fragte Jo mit unverkennbarer Skepsis in der Stimme.
"Ja, natürlich. Ich weiß doch, wie ich es verschnürrt habe. Eindeutig unser kleines Paket", erklärte sie mit Schmollmund und zwickte Jo ins Ohrläppchen.
Von wegen unser. Meins, my darling, dachte Jo. Und diese Zwickereien kriegst du auch noch alle zurück. Aber erst, wenn ich dich nicht mehr brauche.
"Ok, dann lass uns mit deinem Nachbarn ein paar Takte reden", schlug er nur mühsam beherrscht vor.
"Geht nicht", sagte Fräulein Salbei nervös und erzählte von ihrer Begegnung auf der Treppe.
"Und, wohin ist er gegangen?" blaffte Jo mit bösem Blick und zeigte ihr so erschreckend deutlich sein wahres Gesicht.
"Weiß ich doch nicht", zickte Fräulein Salbei und bereute. "Vielleicht ist er ja zum Bahnhof gegangen. Ein Auto hat er ja nicht."
"Du bist doch wirklich zu blöde. Lässt ihn einfach mit meinem Päckchen abhauen."
Die darauf folgende Ohrfeige hätte Jo sich ersparen können. Fräulein Salbei fühlte sich sowieso schon wie ein geprügelter Hund.

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Fräulein Salbei warf die Post auf den Küchentisch, ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen und schüttelte ihre Pumps von den Füssen. Was für ein Tag, dachte sie müde. Eine Woche hatte man sie in Ruhe gelassen; jetzt schien es aufs Neue los zu gehen.
"Fräulein Salbei", ahmte sie die unsympathische Stimme des Sicherheitschefs nach, "wann haben Sie das Werkstück für den Versand einpackt? Wo hatten Sie es abgelegt? Wer war in der Zeit, als es bei Ihnen lag, in Ihrem Zimmer gewesen? Warum haben Sie das Zimmer verlassen, obwohl Ihr Abteilungsleiter Sie ausdrücklich gebeten hatte, das Paket keinen Augenblick unbeobachtet zu lassen, bis es abgeholt würde?"
Sie raffte sich auf und angelte ein Bier aus dem Kühlschrank. Nach dem ersten Schluck kicherte sie leise: "Weil ich meinem Freund die Gelegenheit geben wollte, das Scheißding zu klauen. Was kann ich dafür, dass ausgerechnet mein lieber Nachbar, das anerkannt uninteressanteste männliche Wesen des Konzerns, das Teil mitgehen lässt." Der anschließende satte Rülpser konnte als Bewertung dieses Malheurs angesehen werden.
Vor einer leeren Flasche kann ich nicht heulen, beschloss sie und ging zurück in die Küche. Sie entschied, zu Wein überzugehen. Mit einem gut gefüllten Glas und der Post vom Küchentisch versank sie Minuten später im Wohnzimmersessel. Nach einer ersten Durchsicht öffnete sie einen Brief ohne Absender. Den Text ignorierend, sah sie zuerst nach der Unterschrift.
"Ich glaub's nicht", flüsterte sie. Der Brief war mit Mark unterschrieben.

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"Hallo Fräulein Salbei, ich hoffe von Herzen, dass es Ihnen gut geht. Zu Ihrer und meiner Sicherheit werde ich meinen derzeitigen Standort nicht preisgeben. Ich gastiere gerade in Augsburg bei einer sehr netten Pensionswirtin, deren Ehemann erst in der letzten Woche verstorben ist. Irgendwie ist die Gute ziemlich durch den Wind. Sie ist fest davon überzeugt, dass der Liebe Gott - wie sie sich ausdrückt - mich gesendet hat, sie schnellstens zu ehelichen. Bis gestern fand ich das ganz amüsant; seit der letzten Nacht, als sie plötzlich in meinem Bett lag, finde ich es nicht mehr komisch. Ich werde also heute noch abreisen.
Was das Päckchen aus Ihrem Sekretariat angeht, habe ich es geöffnet und den Inhalt gesichert deponiert. Im Moment überlege ich noch, wie ich es Ihrem jetzigen und meinem ehemaligen Arbeitgeber zukommen lassen kann, ohne dass uns beiden dadurch Ärger entsteht. In einem der nächsten Briefe werde ich Ihnen erzählen, warum ich das kleine Paket sichergestellt habe.
So, jetzt mache ich Schluss, bevor mich die Wirtin noch erwischt und einkerkert. Wenn der Brief Sie erreicht, bin ich natürlich längst in einer anderen Stadt. Bis zum nächsten Brief. Mark

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Sie freute sich. Post, die nicht eine Rechnung beinhaltete, bekam sie selten.
"Was strahlen Sie denn so?" Das kann sie, die alte Klee, dachte Fräulein Salbei, sich von hintern anschleichen, wie eine Katze.
"Lag wohl etwas Schönes im Briefkasten? Was war's denn?"
Fräulein Salbeis Laune war für den Moment dahin.
"Geht sie nichts an", maulte sie und flüchtete die Treppe hinauf. Jetzt bloß keine Debatte über gutes Benehmen mit der alten Schrulle, dachte sie und schloss die Wohnungstür hinter sich.

Sie saß am Küchentisch und hatte den Brief gerade zum zweiten Mal gelesen. Ihre Klamotten lagen noch so im Flur verstreut, wie sie sie nach Betreten der Wohnung von sich geschmissen hatte; als sie den Brief, kaum in der Wohnung, geöffnet und zum ersten Mal mit weit aufgerissenen Augen verschlungen hatte. Für den Augenblick war ihr die Unordnung ziemlich egal.
Sie machte sich Sorgen, und das nicht zu gering. Was Mark ihr da mitteilte, konnte auch für sie zu einer neuen Bedrohung ausarten.

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Hallo Fräulein Salbei,
diesmal habe ich wenig Zeit zu schreiben.
Der Grund: Ich werde verfolgt. Ein Mann um die dreißig, den ich schon öfters gesehen habe, reist offensichtlich hinter mir her.
Eigentlich wollte ich... aber lassen wir das.
Zu meiner und vielleicht auch Ihrer Sicherheit teile ich Ihnen nicht nur nicht mein neues Ziel, sondern auch nicht meinen derzeitigen Aufenthaltsort mit.
Beim nächsten Mal wieder mehr; auch zum Thema Päckchen.
Ach so! Ich hoffe, es geht Ihnen gut?
Mark

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Hallo, Fräulein Salbei.
Nach fast einer Woche habe ich endlich Zeit Ihnen zu schreiben.
Vor einer Woche habe ich einen interessanten Menschen kennen gelernt. Wir haben nebeneinander in der Oper gesessen - Il barbiere di Siviglia - und danach noch eine Kneipe aufgesucht, als wir in der Pause feststellten, dass wir beide ohne Begleitung unterwegs waren. Es war ein sehr netter Abend.
Wie gesagt, ist die besagte Person eine interessante Persönlichkeit, der ich gestern von meinem Dilemma betreffs des Päckchens und meiner Hoffnung auf ein von Zwängen befreites Leben erzählte.
Am Ende dieses Gesprächs stand ich plötzlich vor folgenden Entscheidungen:
Soll ich aus meinem Hotelzimmer heraus bei meiner Bekannten in deren Bauwagen - Bauwagen! - mit einziehen?
Schicke ich das Päckchen meinem Ex-Arbeitgeber anonym zu oder Ihnen oder vernichte ich es? Was für mich zweifelsohne die einfachste Möglichkeit wäre.
In den Bauwagen ziehe ich heute ein. Ist auch kostengünstiger für mich. Haha!
Über das Werkstück habe ich noch nicht entschieden. Wenn es soweit ist, melde ich mich auf jedem Fall noch einmal bei Ihnen. Vermutlich wird es dann das letzte Mal sein, dass ich Sie belästige.
Also, bis dahin.
Mark

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  • Mark klaut ein geklautes Päckchen und geht damit auf Reisen

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