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"Ich muss noch zum Spind", sagte Louise und wich einem der unzähligen Fünftklässler aus, die die engen Gänge des Schulhauses besiedelten. "Echt. Irgendwann überrollen die noch die ganze Schule", murmelte sie und schickte dem Knirps einen vernichtenden Blick hinterher.
"Cool. Ich wart in der Aula", erwiderte Nina und schlurfte müde die Treppe hinunter, die Schultasche schräg über einer Schulter hängend. Louise sah ihr nach und verkniff sich das Lachen, als ihre Freundin unachtsam damit einem aus der Unterstufe heftig gegen den Hinterkopf knallte.
Louise quälte sich durch die Schülermassen, schaffte es dann irgendwie zu ihrem Spind, wo sie beinahe den Schülern, die am Boden hockten, auf die Finger trat, und holte ihr Biobuch hervor. Fluchend bahnte sie sich einen Weg wieder hervor und schenkte dem ganzen Getümmel einen bitterbösen Blick.
Louise ging den Gang entlang und beobachtete die Menschen unten in der Aula, die sich mehr oder weniger enthusiastisch mit dem befassten, was man in einer Schule eben so tut.
Das Mädchen fand ihre Freundin an einem der wenigen unbesetzten Tische. Sie hatte ihren Kopf auf den Schulranzen gelegt und die braunblonden Haare fielen über ihr Gesicht.
Louise setzte sich neben sie und starrte Nina an. "Hallo?" Keine Antwort. "Lebst du noch oder stirbst du schon?" Sie hörte ein undefinierbares Grunzen, aber Nina regte sich immer noch nicht.
Louise zog eine Braue hoch, zog ihre Wasserflasche hervor und stupste Nina damit in den Oberarm.
Ein verschlafenes, zerknittertes Gesicht erhob sich und Nina starrte ihre Freundin aus kleinen Augen an.
"Was'n?"
"Ich wollt nur sehen, ob du noch lebst", erwiderte diese und kramte ihr Pausenbrot hervor.
"Aha", brummte die andere und knallte ihren Kopf wieder auf den Ranzen. Louise schüttelte leicht den Kopf und wandte sich dann ihrem Brot zu. Sie hatten erst mal die kleine Pause, die fünfzehn wichtige Minuten dauerte, und danach zwei Freistunden. Das einzig gute, da sie nun in der Oberstufe waren, war, dass sie ziemlich viele Freistunden hatten. Die sie aber hauptsächlich mit Lernen, lernen und lernen verbrachten, weil daheim einfach keine Zeit mehr dafür war. Ach ja, und manchmal schlief man auch, um irgendwie in den darauf folgenden Unterrichtsstunden wach bleiben zu können. Man siehe sich nur mal Nina an.

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Während Louise ihr Pausenbrot verspeiste, beobachtete sie die Schüler in der Aula. Die Unterstufler setzten alles daran, von den wenigen Lehrern, die hier Patrouille liefen, nicht erwischt und nach draußen in den kalten Nebeltag verbannt zu werden. Die älteren gammelten gemütlich auf ihren Stühlen herum, flirteten, was das Zeug hielt, und plauderten in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Man verstand kaum mehr sein eigenes Wort, besonders wenn man das Glück hatte, neben einer Gruppe Fünftklässler zu sein, die nun doch von einem Lehrer entdeckt worden waren und maulend und meckernd nach draußen gingen.
Louise nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasch, verstaute alles in ihrem Rucksack und lehnte sich dann im Stuhl zurück.
"Hey, als nächstes haben wir zwei Freistunden", sagte sie und vernahm ein grummelndes: "Na super." aus Ninas Richtung.
Das Mädchen verzog das Gesicht. "Ein bisschen mehr Begeisterung könntest du dafür nicht aufbringen, oder?"
Keine Antwort.
Also langsam nervt's, dachte Louise.
"Haaaaallo!", rief sie über den Lärm hinweg und ein paar Schüler drehten sich neugierig zu ihr um.
Nina erhob sich, wedelte gekünstelt mit den Armen in der Luft rum - wobei sie fast die Menschen hinter sich erwischte - und machte ein pseudo-begeistertes "Wohoooo!" Dann verfiel sie zurück in ihre schlafähnliche Trance. "Besser so?", murmelte sie und schaffte es sogar, nicht wieder leblos auf ihren Schulranzen zu sinken.
"Och, joah. Schon mal ein ganz guter Anfang", meinte Louise und grinste ihre Freundin an. Diese schüttelte nur den Kopf und fuhr sich über das Gesicht. Louise fragte sich ernsthaft, wie lange Nina eigentlich geschlafen hatte. Vermutlich nicht sehr lang...

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"Hey, sollen wir zum Edeka laufen? Dann kannst du dir Schokolade kaufen, um wieder auf Vordermann zu kommen", schlug Louise vor und wusste schon, wie ihre Freundin reagieren würde. Diese hob bei dem Wort "Schokolade" augenblicklich den Kopf, bekam ganz große, glänzende Augen und nickte eifrig.
"Schoki", formte sie mit dem Mund und war bereits aufgestanden. Louise verkniff sich ein Lachen. Es war wie ein Zauberwort. Sagte man irgendetwas, das mit Schokolade in Verbindung gebracht werden konnte, hellte sich Ninas Stimmung schlagartig auf und sie war Feuer und Flamme. Nichts würde sie mehr daran hindern, ihre heiß geliebte Schokolade zu bekommen. Rein gar nichts.
Sie durchquerten die Aula, die noch immer voll war, und wurden draußen von einer ekligen Nebelsuppe empfangen. Man konnte kaum fünfzig Meter weit sehen. Es war, als würde der Nebel, in alle Poren dringen und die Geräusche der nahe gelegenen Straße verschlucken.
Unheimlich, dachte Louise und zog die Schultern hoch.
Nina jedoch schien gar nicht zu bemerken, dass es neblig war. Sie rannte fast den Weg zum Edeka hinunter und Louise hatte Schwierigkeiten, mit ihrer Freundin mitzuhalten. Als sie dann endlich den Laden erreicht hatten, schlug Nina schnurstracks den Weg zur Schoko-Abteilung ein, der sie wie ein Magnet anzog. Nina deckte sich mit Schoko-Keksen, Ritter-Sport und Schoko-Mikado-Stäben ein (Keine Ahnung, wie die Dinger heißen...). Louise begnügte sich mit einer Tafel dunkler Schokolade.
"Wenn du nicht aufpasst, wirst du fett von dem Zeug", prophezeite Louise ihrer Freundin, während sie den Weg zur Schule zurück gingen. Nina stopfte sich bereits mit Schoko-Keksen zu.
"Gar nicht", mampfte sie. "Ich muss später noch zum Bahnhof laufen, da krieg ich das wieder runter."
"Wenn du meinst", murmelte Louise als Antwort und sie setzten ihren Weg fort. In der Großen Aula war es noch immer laut und voll. Also stiegen sie die Treppe hinauf und wurden bitter enttäuscht, als ihr einziger Zufluchtsort hier an der Schule auch noch abgesperrt war.
Die Bibliothek.
"Ach, mennoooooo", meckerte Louise und wandte sich an Nina, die noch immer kaute. Mittlerweile war sie bei ihrer Ritter-Sport angelangt. "Was machen wir jetzt?"
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern und schluckte. Gemeinsam sahen sie nach unten. Die Große Aula kam nicht in Frage: vollgestopft mit kleine, lärmenden Kindern.
Also quälten sie sich zur Kleinen Aula, die nur einen Gang entfernt lag. Auch diese schied aus: merkwürdige Streberkinder und Putzfrauen, die ihnen unheimliche Blicke zuwarfen, als wären sie die ersten menschlichen Wesen, die ihnen heute über den Weg gelaufen waren.
Schnell gingen sei weiter und dachten nach, wo sie ungestört ihre Schoki verspeisen und ungestört plaudern konnten.
Nachdem sie dann das gesamte Schulhaus durchkämmt hatten, stapften sie trübsinnig die Treppe zum zweiten Stock hinauf, in dem es kalt war und keine Menschenseele zu sehen war. Alles war staubig und alt.
"Wow." Ninas Stimme hallte in dem leeren Gang wider. "Man sollte echt meinen, eine so riesige Schule hätte irgendeinen Platz, wo man sich ausspannen könnte-eeeeee!" Ihr Satz ging in einem überraschten Schrei unter und dann hörte Louise neben sich ein Rumsen und einen Fluch.
Als sie sich umdrehte, brach sie in lautes Gelächter aus. Nina hing schief mit ihrer Schultasche an einer Türklinke, die Schoki noch in einer Hand, den Ordner in der anderen. Nur waren jetzt die ganzen Blätter auf mysteriöse Weise abhanden gekommen und lagen nun verstreut auf dem Boden.
"Schön, dass ich dich so amüsiere", maulte Nina, erhob sich schwerfällig und begann, ihre Blätter einzusammeln. Als Louise sich gefangen hatte, half sie ihrer Freundin und stand dann wieder auf.
"Speicheraufgang Nummer 16", las sie laut das blaue Schild neben der braunen Holztür vor. "Seit wann haben wir einen Speicheraufgang?"
"Keine Ahnung", grummelte Nina und stellte sich dann neben Louise. "Hört sich aber cool an."
Louise warf ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. Diese zuckte nur mit den Schultern und biss ein Stück ihrer Rittersport ab. Das andere Mädchen seufzte und sah den Gang auf und ab. Kein Mensch. Welcher normale Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hatte, kam auch zu dieser Zeit hier hoch?
Das heißt dann wohl, dass wir nicht mehr alle haben, oder?, grübelte Louise nach und zuckte ebenfalls mit den Schultern.
"Wenn wir schon mal da sind, können wir auch gleich gucken, was da so drin ist."
Und dann legte sie die Hand auf die Klinke. Sie hatte angenommen, dass die Tür verschlossen war, aber es machte ein lautes Klicken und die Tür schwang nach außen auf. Drinnen war eine weitere Tür in Grau. Auch diese war offen.
"Ey, coooool!" Nina ging an ihrer Freundin vorbei in den kleinen Raum. Louise folgte ihr dichtauf.

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"Dürfen wir hier eigentlich sein?", fragte Louise und folgte Nina durch die graue Tür. Drinnen war es kühl und es roch nach Moder. Sie rümpfte augenblicklich die Nase und sah sich um. Es war ziemlich eng. Zu ihrer Rechten führte eine alte Holztreppe nach oben - was auch immer da oben sein mochte - und ihnen gegenüber ließ ein riesiges Fenster ein wenig gedämpftes Licht hinein. Zwei alte Schultische standen an der linken Wand, auf denen irgendwelche Kartons und Bilder lagen.
"Keine Ahnung. Ist doch auch egal oder?"
"Eigentlich schon", stimmte Louise ihrer Freundin zu, die ihre Tasche samt Ordner auf die Fensterbank schleuderte und sich daran machte, die Bilder in Augenschein zu nehmen.
"Das sieht cool aus." Sie hielt eines der eingerahmten Bilder hoch, auf dem eine merkwürdig eckige Figur zu sehen war, die von gruselig aussehenden Grabsteinen umzingelt war. Louise hob missbilligend eine Braue und sagte: "Du bist komisch."
"Ich weiß."
"Ich wollt dich nur noch mal dran erinnern." Louise besah sich die Fensterbank, auf der unzählige tote Fliegen lagen. "Igitt." Sie pustete die toten Viecher weg und hockte sich auf die Fensterbank. Nina tat es ihr gleich, nachdem sie die Bilder durchstöbert hatte.
"Was is'n da oben?", fragte Nina mit vollem Mund und deutete mit ihrer freien Hand die Treppe hinauf, die ihnen direkt gegenüber nach oben führte. Louise hielt im Kauen inne und starrte nach oben. Es erinnerte sie an eine alte Gruft, wie sie manchmal in Mittelalterfilmen zu sehen waren. Ein leichter Schauer überkam sie und sie schluckte schwer.
"Keine Ahnung. Ich war ja noch nie hier", gab sie ein wenig patzig zurück.
"Hm", machte Nina und legte die Schokolade beiseite. Sie ließ sich von der Fensterbank gleiten und lugte die Treppe hinauf. Es war nur ein niedriges ... Etwas zu sehen. Wie sollte man sowas beschreiben? Als eine Art Mini-Diele? Nur dass man eine Diele mit Wärme und Geborgenheit in Verbindung brachte. Eigentlich. Diese "Diele" war mehr als winzig und kahl und grau und dunkel. Sehr dunkel.
Und gruselig.
"Uargh! Du willst doch da nicht hoch, oder?", fragte Louise und gesellte sich widerstrebend zu ihrer Freundin. Eine alte Lampe hing an der niedrigen Decke. Sie sah nicht aus, als würde sie noch funktionieren. Noch ein Grund mehr, da nicht hoch zu gehen. Der andere war, dass es total unheimlich war.
"Keine Ahnung. Wär doch interessant. Vielleicht finden wir ja irgendwelche alten Dokumente über die Schule oder so. Oder alte Bücher." Nina grinste ihre Freundin an. Diese seufzte schwer und meinte dann: "OK. Aber wenn uns jemand erwischt, bist du Schuld. Und du gehst als Erste hoch."
"Geht klar. Was?!"
Nina richtete sich auf und starrte ihre Freundin an. "Wieso muss ich da als Erste hoch??"
Louise hob triumphierend eine Braue. "Du warst doch so scharf drauf, irgendwelche bescheuerten Verschwörungstheorien zu finden. Also. Dann mal los." Sie gab ihrer Freundin einen leichten Schubs und folgte ihr dann langsam die Treppe hinauf, die bei jedem Schritt wie höllisch knarrte. Insgeheim hoffte sie, die Treppe würde nicht jeden Moment unter ihnen zamkrachen. Oder noch schlimmer: Ein Lehrer würde sich hierher verirren und das Knarren und ihr hysterisches Gekicher von draußen vernehmen.
"Shit", fluchte Nina, als sie oben angekommen waren und sie sich prompt den Kopf an der Decke anstieß. "Ich bin zu groß für diese Scheiße!"
Louise kicherte und stellte sich dann neben ihre Freundin. Es gab zwei Türen. Das war schon mal schlimm genug. Und was noch viel komischer war - jedenfalls für sie - die eine war nur angelehnt, während die andere geschlossen war.
"Und jetzt?", fragte Nina und versteckte die Hände in ihrem überlangen Pulli.
"Wie, was jetzt? Wir gehen da natürlich rein", meinte Louise und sie fühlte sich eindeutig nicht so gelassen, wie sie sich vielleicht anhören mochte.
"Was? Aber ..."
"Wieso sind wir diese blöde Treppe denn hochgegangen, wenn wir nicht mal reinschauen, huh?"
Das schien Nina zu überzeugen. Jetzt wie ein paar Angsthasen die Treppe runterzupoltern wäre bestimmt nicht förderlich für ihr Selbstbewusstsein. Es hatte sie ja schon Mühe gekostet, das alte Teil überhaupt hochzugehen.
"Ok."
Langsam stupste Nina die angelehnte Tür, die quietschend ein Stück weit aufschwang. Von drinnen drang ein merkwürdiges vibrierendes Geräusch an ihre Ohren. Ein kalter Windstoß fegte ihnen die Haare aus dem Gesicht und schickte einen staubigen Geruch mit sich.
"Oh scheiße", fluchte Nina und klammerte sich an Louises Ärmel.
"Was?", flüsterte das Mädchen und lugte an ihrer Freundin vorbei. Was sie sah, war nur die Silhouette eines gewöhnlichen Stuhles, hinter dem so eine Art Seil herunterhing. Die wildesten Gedanken rasten durch ihren Kopf: Jemand, der sich mithilfe des Stuhls und des Seils dahinter erhängt hatte? Und wer, zum Teufel, stellt da bitte einen Stuhl hin? Dann glitt ihr Blick hinter den Sthul. Eine winzige Türöffnung, durch die vielleicht ein Hobbit gepasst hätte, beschien den Stuhl von hinten.
"Scheiße, sieht das gruselig aus", flüsterte Louise mehr zu sich selbst und klammerte sich nun ihrerseits an ihre Freundin.
"Los, gehen wir rein."
"Bist du sicher?", fragte Louise und sah ihre Freundin an. "Wie bist denn du drauf?" Nina sah irgendwie gar nicht verängstigt aus. Eher ... neugierig? "Hast du keinen Schiss?"
Diese zuckte nur vage mit den Schultern und trat einen Schritt durch die Tür, wobei sie ihre Freundin ungewollt mitzog.
"Argh! Warte doch mal!"
Doch Nina ging einfach weiter. Das Bisschen Licht, das durch die Tür hinter ihnen fiel, beleuchtete gerade mal die ersten paar Meter. Es war ein staubiger Betonboden, auf dem sie liefen. Zu beiden Seiten arbeiteten irgendwelche dicke Rohre auf Hochtouren. Wofür die auch immer gut sein mochten ...
Diese Art Gang, in denen sie sich befanden, war recht breit und so gingen sie dicht nebeneinander her. Es war erstaunlich weit, bis sie in die Nähe des Stuhls gekommen waren. Dann blieb Nina stehen.
"Riechst du das auch?"
Louise, die gerade Todesängste ausstand, sah zu Nina hoch, erkannte aber nur Schwärze. "Nein, was?" Sie hasste es, dass ihre Stimme - und nebenbei auch ihr ganzer Körper - wie verrückt zitterte. Sie hob leicht den Kopf an und schnüffelte. Es roch ganz leicht nach ... Blut?
"Oh. Mein. Gott", würgte Louise hervor und schlug sich eine Hand vor den Mund.
"Blut", bestätigte Nina und endlich schwang auch ein wenig Nervosität in ihrer Stimme mit. Louise hatte schon befürchtet, sie sei die einzige, die im Begriff war, sich in die Hosen zu machen.
"Hey, lass uns bitte gehen, okay? Das ist mir echt viel zu gruselig hier und ..."
Ein Geräusch, das die beiden Mädchen herumwirbeln ließ, hallte plötzlich durch den Raum. Sie sahen gerade noch, wie die Tür hinter ihnen wie von selbst zuschlug. Das Quietschen hallte noch in ihren Ohren wieder, als Louise ein wimmerndes Geräusch ausstieß.
"Was war das?", zischte sie und krallte sich fest in den Arm ihrer Freundin, als ein eiskalter Lufthauch über ihre Wange fuhr. Der Geruch nach Blut wurde stärker. So langsam wie in Zeitlupe drehte sich den Kopf herum und starrte mit riesigen Augen in endlose Schwärze.
"Was war was?", zischte Nina zurück und packte ihre Freundin ebenso fest am Arm, dass diese fast aufgeheult hätte, so weh tat es. Doch ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem sich bewegenden wabernden Schatten, der langsam vor den beiden Mädchen Gestalt annahm.
"Was ist das?", wollte Louise ihre Freundin fragen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Sie konnte nicht einmal mehr blinzeln, geschweige denn atmen. Sie war vollkommen aus Stein und Nina erging es sicherlich nicht anders.
Der wabernde Schatten zog sich langsam zusammen und materialisierte sich zu einem ... Dämon? Was auch immer es sein mochte, es sah aus wie ein Mensch. Jedenfalls hatte es Arme, Beine, einen Oberkörper und einen Kopf. Ein Mensch, oder?
Oh Gott, bitte lass es einen Menschen sein, schoss es Louise durch den Kopf, aber wenn sie es sich recht überlegte. Welcher normale Mensch bestand aus Schatten und waberte so komisch wie der Typ da vor ihnen? Sie kannte keinen. Und sie hätte auch gern auf diese Begegnung verzichtet.
"Ahhhhhhh", machte der Mann-Schatten und es hörte sich wie ein erlösendes Seufzen an. Ein eisiger Schauer rann über den Rücken der Mädchen. Das was-auch-immer-da-auferstanden-ist breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken, um tief Luft zu holen.
Hatte er etwa einen Ganzkörperanzug an? Jedenfalls sah es so aus. Die Schatten um ihn herum hatten sich an seinen Körper geschmiegt und ihn umhüllt.
Erinnert mich irgendwie an Voldemort, dachte Louise und hätte ein hysterisches Lachen ausgestoßen, hätte sie noch Luft in ihren Lungen übrig gehabt.
Dann senkte der Mann die Arme und schaute die Mädchen direkt an. Seine Augen waren nicht zu sehen. Sein Gesicht war in Schatten gehüllt und hinzu kam noch, dass er von hinten beschienen wurde, sodass sie rein gar nichts erkennen konnten.
"Was für liebreizende Geschöpfe der Natur", meinte der Mann und seufzte erneut. Seine Stimme war erstaunlich rein ... und irgendwie sexy. Sexy??? Wie konnte eine kreatur aus Schatten bitte sexy sein? Wenn sie zudem noch nach Blut stank!
Keine der beiden Mädchen brachte einen Ton heraus.
"Aber ich sehe euch ja gar nicht richtig. Was für ein Jammer." Er hob eine Hand und schnippte mit den Finger. Sofort sprangen unzählige kleine Flammen um sie drei herum und beschienen die Anwesenden.
Der Mann - oder was er eben war - hatte helle Haut. Fast weiß. EIn Vampir? Scheiße, ich dachte, es gibt keine Vampire, jammerte Louise stumm.
"Ja. Außerordentlich reizende Geschöpfe seid ihr." Dann legte er den Kopf schief und schaute uns an. Er hatte golden schimmernde Augen. "Aber wieso seid ihr denn so stumm? Habt ihr etwa Angst?"
Er kam einen Schritt auf sie zu und streckte eine Hand nach ihnen aus. Wie durch ein Wunder stolperten sie im selben Moment zurück und die Flammen um sie herum bewegten sich mit ihnen.
"Aber aber, meine Mädchen. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Ich gebe zu, es ist sicher ein wenig ... nun, sagen wir, erschreckend, einen Dämonen wie mich aus heiterem Himmel auferstehen zu sehen -"
"Hah! Also doch ein Dämon!"
Entgeistert drehte Louise Nina den Kopf zu und starrte sie an. Sie hatte ein triumphierendes Gesicht aufgesetzt.
"Hast du sie noch alle?!", fauchte Louise sie an und zwickte sie in den Oberarm.
"Was denn?", fragte Nina, doch die beiden verstummten augenblicklich, als ein tiefes Lachen sie unterbrach.
Der Dämonen-Mann lachte aus vollem Hals und es hallte im Raum wider.
"Ihr beide seid wahrlich amüsant." Er hielt kurz inne und sah aus, als würde er über etwas nachdenken, dann lächelte er. "Wisst ihr, ich glaube, ich weiß, was ich mit euch anfangen werde."
"Wie bitte? Wissen Sie, wir sind nur aufm Sprung hier und wollten eigentlich gerade wieder gehen. Wir haben ja noch Unterricht und so, also, wir wollten Sie wirklich nicht stören, bei ... was auch immer Sie gemacht haben und ..." plapperte Louise drauf los, doch da legte der Dämon eine Hand auf ihren Mund. Erschrocken starrte sie in seine goldenen Augen. Wie war er so schnell da hingekommen??
"Schhhhh. Du redest zu viel, mein Täubchen."
"Moibken???", brachte sie hinter zugehaltener Hand hervor und starrte ihn an. Er strich ihr sanft über die Wange und wandte sich dann Nina zu.
"Ich war so lange allein, müsst ihr wissen. Ich sehne mich nach Gesellschaft." Er fuhr Nina leicht über das Haar und wandte ihnen beiden dann den Rücken zu. Die Mädchen warfen sich Blicke zu, die besagen sollten, dass sie so schnell sie konnten einfach umdrehen und zur Tür hechten sollten, bevor dieser Spinner weiter irgendwelchen Schwachsinn von sich gab. "Meine Diener haben sich von mir abgewandt und ich bin ganz allein. Was sollte ich all die Jahre tun? Niemand hat sich hierher verirrt. Sie haben sich vor diesem Ort gefürchtet." Er wandte sich ihnen zu und sie drehten ihm rasch die Köpfe zu und taten so, als hätten sie ihm zugehört. "Aber ihr zwei." Er deutete mit dem Finger auf sie. "Ihr zwei seid prächtige Menschen."
Prächtige Menschen?
Louise hob eine Braue, sagte aber nichts.
"Ihr lasst mich sicher nicht wieder allein. Ihr seid die einzigen, die ich habe."
"Warten Sie mal, ja?", ertönte Ninas Stimme. "Wir haben hier eigentlich gar nichts zu suchen. Wenn die Leher uns erwischen, sind wir geliefert. Also wären Sie wohl so freundlich und würden uns einfach gehen lassen? Ich hab nämlich keinen Bock auf einen Verweis und Louise sicher auch nicht."
"Louise?" Er richtete den Blick auf das Mädchen. "Das ist dein Name?"
"Eh...ja?"
Erneut lachte er voller Genuss und die Mädchen zuckten heftig zusammen. Dann richtete er den Blick auf Nina. "Und wie ist dein Name, meine Schöne?"
"Eh..." Nina warf ihrer Freundin einen Hilfe suchenden Blick zu, doch die zuckte hilflos mit den Schultern.
Der Dämon ging auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Wange. "Wie ist dein Name?" Voller Entsetzten verfolgte Louise wie der Dämon sich zu ihrer Freundin hinunterbeugte und seine Lippen an ihr Ohr legte. "Sag mir deinen Namen." Dann fuhr er sanft über ihre geschlossenen Augenlider und drängte sie, ihm ihren Namen zu sagen.
"Nein, sag es ihm nicht!", schrie Louise plötzlich und zog Nina mit sich. Die goldenen Augen hefteten sich auf das Mädchen, doch sie beachtete ihn nicht. Wie wild zog und zerrte sie an dem ausgewaschenen Pulli ihrer Freundin und beide stolperten sie in Richtung Ausgang.
"NEIN!"
Sein Schrei hallte in ihren Ohren wieder. Sie konnten ihn hinter sich spüren, aber sie waren schon an der Tür, Louise riss sie voller Wucht auf, zog ihre Freundin mit sich und knallte sie dann im letzten Moment hinter sich zu. Louise erhaschte noch einen letzten Blick auf das vor Wut verzerrte Gesicht des Dämons. Und noch etwas lag in diesem goldenen Blick.
Trauer und Schmerz.
Nina rannte so schnell es ihre zitternden Beine erlaubten die Treppen hinunter, krallte sich ihren Rucksack und den Ordner und hechtete dicht gefolgt von Louise aus dem Speicheraufgang.
Sie knallten die beiden Türen hinter sich zu und rannte den Gang hinuter, die Treppe runter und durch die Aula. Sie beachteten die neugierigen Gesichter nicht und die Menschen, die ihnen nachschauten. Sie hielten nicht an, bis sie im anderen Haus nach Luft schnappten und in eines der Mädchenklos preschten, das- Gott sei Dank! - leer war.
Es dauerte ungefähr eine Viertelstunde, bis sie wieder normal atmeten und sich aus großen Augen anschauten.
Und dann sagten sie wie aus einem Munde: "Oh shit!"

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Zuerst wusste Louise nicht, was sie sagen sollte. Ihre Gedanken rasten wie wild durch ihren Kopf und sie konnte keinen erfassen. Nina ging es ganz offensichtlich genauso, denn die blauen Augen ihrer Freundin stierten fassungslos in die Ferne und sie war blass. Blasser als sonst, und das hieß schon etwas.
Louise räusperte sich ungeschickt und ließ sich an den kalten Fließen auf den Boden niedersinken. Ihre Hände zitterten noch immer, als sie sich durch das zerzauste Haar fuhr.
"Louise, wir sind grad einem Dämon begegnet", ertönte plötzlich Ninas STimme, die erstaunlich gefasst klang. Sie wandte sich ihrer Freundin zu, die sich ebenfalls auf den Boden gesetzt hatte.
"Ja", war ihre Antwort. Was sollte man darauf auch schon großartig sagen?
"Was heißt das jetzt?", fragte Nina und sah Louise ein wenig verloren an. Diese zuckte unbeholfen mit den Schultern und seufzte.
"Ich wusste ja nicht mal, dass es wirklich welche gibt. Ich meine, von Vampiren und Werwölfen und dem ganzen Zeug liest man eh so viel, da würde es, glaub ich, nicht so schockierend sein. Aber ein Dämon ..." Ihre Stimme verlor sich und sie dachte darüber nach.
Es gab ziemlich viele verschiedene Ausführungen von Dämonen: hässliche, schöne, dicke, dünne, böse, gute.....und so weiter. Ok, dieser hier war weder hässlich noch schön, dick gerade nicht, böse oder gut? Louise legte die Stirn in Falten, als sie an das Gesicht dachte, das er gemacht hatte, kurz bevor sie ihm die Tür vor der Nase zugeknallt hatte. Er hatte irgendwie traurig ausgesehen...
"Am besten wir vergessen das einfach", platzte Nina plötzlich heraus und stand auf. Louise starrte sie an.
"Wie, zum Henker, willst du bitte sowas vergessen? Der Typ - oder was auch immer - hat dich angefasst! Der kennt meinen Namen und ich glaube, wir haben ihn irgendwie aufgeweckt. Verdammt, wären wir da oben nie rein, dänn hätten wir den Schlamassel jetzt nicht am Hacken!" Sie holte tief Luft und schaute Nina von unten herauf an. Diese zuckte nur mit den Schultern und wartete, bis Louise aufstand und ihr nach draußen folgte.
"Ich hab Hunger."
"Du bist komisch, Nina. Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch sagen muss."
"Mein Gott, nach all der Aufregung hab ich halt jetzt Kohldampf. Ist das etwa ein Verbrechen?", maulte sie zurück und stapfte mürrisch in Richtung Spind, wo sie vermutlich einen Vorrat an Schokolade angehäuft hatte. Louise folgte ihr kopfschüttelnd, sagte aber nichts weiter.
Als sie vor Ninas Spind angelangt waren, kramte Nina noch schlechter gelaunt in ihrer braunen Winterjacke. Jede einzelne Tasche durchsuchte sie und dann noch einmal. Fluchend druchwühlte sie ihre Schultasche, räumte alles (wirklich ALLES) raus und wieder rein.
Ihr Schlüssel war nicht da.
"Shit! Das gibt's ja wohl nicht!", rief sie voller Verzweiflung und hockte auf dem Boden vor dem Spind, der sich nicht öffnen ließ. Louise sah sie an.
"Wo hattest du ihn denn zuletzt?"
"Na, in der Jackentasche hier." Sie griff noch einmal in ihre rechte Tasche, aber da war er nicht. Dann wurde ihr Gesicht schlaff und weiß. Regelrecht weiß.
Louise stöhnte genervt. "Sag bloß, du hast ihn auf dem Weg zur Bushalte in irgendeinen Gulli geschmissen? Oder dein Hund hat ihn gefressen. Der sieht aus, als würd er wirklich alles verspeisen. Oder deine kleine Schwester hat ..."
"NEIN!"
Louise zuckte heftig zusammen, als sie Ninas Aufschrei hörte. Merkwürdigerweise erinnerte der Schrei sie an den Dämon, der voller Hysterie geschrien hatte. Ein eiskalter Schauer rann über ihren Rücken, dann fing sie sich wieder.
"Was denn?"
Nina erwiderte Louises genervten Blick mit vollkommener Panik. "Ich hab den Schlüssel auf dem Speicheraufgang verloren!"
Das Mädchen starrte ihre Freundin an, dann legte sie den Kopf in den Nacken und lachte. Sie wusste nicht, wie lange sie gelacht hatte, aber es musste einige Zeit gewesen sein, denn Nina hatte sich wieder aufgerappelt und wartete geduldig, bis Louise sich wieder beruhigt hatte.
"Ok, jetzt sag ich dir mal, dass du vollkommen spinnst", meinte sie nüchtern und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Klar. Ich weiß." Louise kicherte noch immer und zwang sich dann, ernst zu werden. "Ok. Du hast also den Schlüssel bei dem Spinner gelassen. Dann beantrage doch bei Frau Thorm einen neuen. Die gibt dir sicher einen."
"Glaub ich nicht. Außerdem dauert mir das zu lange und irgendwann werde ich ja mal die Bücher brauchen, die da vor sich hingammeln, von meiner ganzen Schokolade ganz zu schweigen!" Sie warf hysterisch die Arme in die Luft und zerraufte sich das eh schon zerrupfte Haar.
"Gut. Dann müssen wir anscheinend da noch mal hoch."
Nina sah ihre Freundin an, als stünde sie einer kompletten Irren gegenüber.
"Du willst da wirklich noch mal hoch?"
Louise zuckte mit den Shcultern. "Glaub mir, ich hab auch keine Lust, dem Dämon da noch mal zu begegnen. Besonders, nachdem wir so überstürzt abgehauen sind."
"Überstürzt, ja", murmelte Nina und seufzte. "Tja, wohl oder übel hast du Recht."
"Natürlich hab ich Recht", meinte Louise und schnaubte. "Morgen gehen wir noch mal hoch. Und bring irgendwas mit, mit dem man sich wehren kann. Ich weiß ja nicht, auf was für dumme Gedanke so ein einsamer Dämon kommen kann, wenn er Zeit zum Nachdenken hat." Sie bekam eine Gänsehaut und schüttelte sich.
"Na, das wird ja lustig."
"Ja, und wenn wir deinen bescheuerten Schlüssel gefunden haben, binde ich ihn dir persönlich um den Hals, dass du ihn nie mehr in deinem Leben verlierst."
"Geht klar."
Gemeinsam stapften sie zum Unterricht und verdrangen für den Rest des Tages den irren Dämon aus ihren Köpfen.
Zumindest für heute...

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Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging Louise langsam auf das Schulgebäude zu. Es war kalt und der Atem der Schüler stieg in weißen Wolken vor deren Gesichtern auf. In einer Hand trug das Mädchen ihren Ordner und in der anderen eine Tasche, in der ihr Badmintonschläger eingepackt war.
Im Schulhaus war es nicht gerade wärmer, aber immerhin ging hier kein Wind, der einem die Frisur zerstörte. Louise hatte in der ersten Stunde frei und so verstaute sie ihren Badmintonschläger im Spind und ging dann in die Biblo. Als sie die Treppe in den ersten Stock hinaufging, glaubte sie ein entferntes Heulen zu hören. Erschrocken blieb sie stehen und horchte.
Aber da war nichts mehr.
Louise stieß ein genervtes Stöhnen aus.
"Reiß dich mal zusammen!", maulte sie sich selbst an und stapfte auf die Tür zu. Drinnen war es angenehm warm und es brannte schon Licht. Sie ging durch den kleinen Gang, der die beiden Räume miteinander verband und setzte sich an den erstbesten Tisch hin. Sie seufzte und verbarg das Gesicht in den Händen.
In der letzten Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Immer und immer wieder waren ihr die seltsamsten Gedanken im Kopf herumgegangen und das Gesicht des Dämons hatte sie nicht mehr losgelassen. In den Schatten ihres Zimmers hatte sie angefangen, irgendwelche Dämonen zu sehen, die es gar nicht gab. Sie war sich wie ein verschrockenes kleines Kind vorgekommen.
Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, durchstöberte sie die Regale. Sie fand sogar eine Abteilung, in denen Romane stande - zugegeben, alte Romane. Aber besser als irgendwelche Bücher über Genetik oder Römische Kunst. Also zog sie ein Buch von Kafka heraus und begann, zu lesen. Erstaunlicherweise gefiel ihr sein Schreibstil und die Geschichte war äußerst amüsant, also las sie ziemlich viel, bis es zur zweiten Stunde gongte.
Rasch packte sie ihre Sachen zusammen, stellte das Buch - schweren Herzens - zurück an seinen Platz und machte sich in Richtung Klassenzimmer auf.
Bald darauf begegnete sie Nina, die genau so aussah, wie sie sich fühlte: Wie ein Zombie.
Die ungekämmten Haare standen ihr zu Berge, die Augen waren klein und sie hatte Schatten unter den Augen.
"Morgen", murmelte Nina und ließ sich wie ein toter Mehlsack auf den Stuhl neben Louise fallen. Sie machte sich nicht mal die Mühe, ihre Sachen für den Unterricht herauszukramen. Ehrlich gesagt wusste Louise auch nicht, was sie für einen Unterricht jetzt hatten... es war ihr egal, sie war hundemüde.
"Morgen", entgegnete diese und seufzte. "Wie's scheint, hast du auch nicht viel Schlaf bekommen."
Langsam drehte Nina den Kopf in ihre Richtung und brachte ein abfälliges Schnauben zustande.
"Du untertreibst. Ich hab solche Panik gehabt, dass ich zu meinem kleinen Bruder ins Zimmer bin, der schnarcht, dass sich die Balken biegen. Dann bin ich zu meiner kleinen Sis und die hat mitten in der Nacht angefangen, zu schreien. Meine Mum kam rein und hat mir tatsächlich 'nen Tee gemacht, bei dem ich buchstäblich das Kotzen gekriegt habe." Sie seufzte und schüttelte den Kopf. "An Schlaf war nicht mal zu denken."
"Oh", war alles was Louise darauf antworten konnte. Da hatte sie es ja noch einigermaßen gut gehabt.
Der Unterricht begann und sie verstummten. Normalerweise hätten sie sich ab und an unterhalten oder irgendwas auf den Tisch gekritzelt mit dem Inhalt: "Ich will heim." oder "Wie bescheuert ist das denn?" und "Schau dir mal an, was die heute wieder für hässliche Schuhe anhat."
Aber heute starrten sie nur geistesabwesend vor sich hin und lasen, wenn man sie denn aufrief, mit monotoner Stimme irgendetwas vor, von dem sie keine Ahnung hatten, worum es überhaupt ging. Vermutlich ließen die Lehrer sie in Ruhe, weil sie beide wie lebende Toten aussahen.
Hm, dachte Louise. Muss ich mir merken.
Wären sie in einem dieser japanischen Comics, würde um sie herum eine schwarze Wolke wabern und groß und breit ein Schild mit der Aufschrift "Gloomy" über ihnen hängen.
Am Ende wussten sie nicht mehr, wie sie diese fünf Stunden Unterricht überstanden hatten. Als es dann zur Mittagspause gongte, waren sie wie durch ein Wunder hellwach.
"Was hast du eigentlich zu deiner Verteidigung mitgebracht?", fragte Louise ihre Freundin leise, während sie sich auf den Weg zum Spind machten. Diese grinste plötzlich fies und zog einen Baseballschläger hervor, den man zusammenklappen konnte. Louise beäugte das Ding und warf ihrer Freundin dann einen skeptischen Blick zu.
"Was denn? Das war das naheliegendste, das mir spontan eingefallen ist", verteidigte Nina sich und zog eine Schnute. "Und was hast du dabei, um dem Dämon den Hintern zu versohlen, falls er fiese Matenten macht?"
"Hee hee", machte Louise nur und zeigte ihrer Freundin dann den robusten Badmintonschläger und ihr Haarspray, das sie mitgebracht hatte.
"Ein Haarspray?"
"Jep." Louise hielt es hoch. "Mit Zitronengrasgeruch und zehn Prozent mehr Inhalt. Wenn der mir blöd kommt, sprüh ich ihm das Zeug einfach in die Augen."
Diesmal war es Nina, die lauthals loslachte.
"Wieso? Ist doch ne gute Idee, oder? Pfefferspray ist bei uns leider ausgegangen", meinte Louise sarkastisch und verstaute ihre Tasche inklusive der Sachen von Nina im Spind. Bei ihrer Ninas-Schlüssel-Zurückholen-ohne-von-bösem-Dämon-aufgefressen-zu-werden Aktion konnten sie ihre Taschen nicht gebrauchen.
"Ah. Ich hab noch was dabei." Nina zog eine übergroße Taschenlampe aus ihrer Tasche, bevor Louise abschloss.
"Wooooow!"
"Schon, oder?" Nina grinste hinterhältig.
"Wo hast du denn dieses Teil her? Mit dem kann man ja einen erschlagen!" Fasziniert nahm Louise die Taschenlampe genauer in Augenschein.
"Von meinem Dad hab ich die. Du weist ja, er ist Bauvorarbeiter und irgendwann hat er eben mal so ein Teil mitgebracht. Ziemlich praktisch, oder?"
"Aber auf jeden Fall."
Sie gingen die Treppe in den zweiten Stock hinauf und hielten dann kurz vor der braunen Tür inne.
"Ok, hier ist der Plan", begann Louise und wandte sich ihrer Freundin zu. "Wir gehen zusammen die Treppe hoch, in diesen Speicheraufgang, du schnappst dir deinen Schlüssel und rennen dann was das Zeug hält raus. Kapiert?"
Nina nickte entschlossen und Louise trat vor. Sie atmete ein letztes Mal tief durch und drückte dann die Klinke nach unten. Schnell huschten sie in den Raum und schlossen die beiden Türen hinter sich. Drinnen war es kühl und staubig. Und still. Kein verdächtiges Geräusch war zu hören.
"Leise", flüsterte Louise und packte ihren Badmintonschläger fester. Den Finger hatte sie schon angriffsbereit auf den Auslöser ihres Haarsprays gelegt.
Auf Zehenspitzen erklomm sie die knarrende Treppe und spürte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug. Sie wartete, bis auch Nina oben angelangt war, dann nickte sie. Nina ging vor und stieß die Türe auf, die Taschenlampe mit der Rechten umklammert, den Baseballschläger mit der anderen.
Langsam schwang die Tür auf und machte den Blick auf diesen verfluchten Ort frei. Es war wie immer. Die Rohre arbeiteten, ein kühler Lufthauch fuhr durch das Haar der Mädchen und ganz hinten beschien das Tageslicht den unheimlichen Stuhl mitsamt Seil.
"Schnell!", zischte Louise und folgte Nina dichtauf in den Speicher. Sie riss die Augen auf, doch es half nicht viel. Sehen konnte sie nicht viel.
Es dauerte nicht lange, bis Nina ihren Schlüssel endlich gefunden hatte. Er lag genau dort, wo sie gestern gestanden hatten.
"Super, gehen wir!", drängte Louise und drehte sich zur Tür um. So schnell, dass ihre Sportlehrerin mehr als stolz auf sie gewesen wäre, rasten sie nach draußen und schlugen die Tür hinter sich zu. Draußen atmeten die beiden erleichtert auf.
"Hey! Das war ja gar nicht so schlimm", lachte Nina und setzte einen Fuß auf die Treppe, als Louise etwas aus dem Augwinkel wahrnahm und ihre Freundin an den Schultern zurückriss.
"Was - ?" Aber weiter kam Nina nicht. Ihr stockte augenblicklich der Atem und die beiden Mädchen klammerten sich aneinander.
Was Louise gesehen hatte, war schwarzer Rauch, der das Geländer heruntergewabert war und die Treppe knarzte laut. Am Ende der Stufen wirbelte der Rauch umher, bis er sich manifestierte.
Und der Dämon erschien.
Die Mädchen waren zu schockiert, um schreien zu können. Sie starrten den Dämon nur an. Etwas an ihm hatte sich verändert. Er schien größer zu sein. Und sein helles Gesicht hatte einen gemeinen Ausdruck angenommen. Zorn lag darin, das war ganz eindeutig.
"Ah. Es ist schön euch beide wieder zu sehen", sagte er mit sanfter Stimme und lächelte ein bösartiges Lächeln.
Was ist mit ihm passiert? fragte Louise sich.
"Ich dachte schon, ihr würdet mich gar nicht mehr besuchen und vergessen." Er lächelte weiter, während er einen Fuß auf die unterste Stufe setzte.
"HALT!", rief Louise plötzlich und streckte eine Hand aus, als könnte sie ihn somit aufhalten. "Bleiben Sie da stehen." Sehr zu ihrem - und auch Ninas - Erstaunen blieb er stehen und sah sie an. "Sagen Sie uns, was Sie von uns wollen. Bitte", fügte sie ein wenig verspätet hinzu und hörte, wie ihre Stimme leicht zitterte.
Der Dämon sah sie an und sein Blick bohrte sich regelrecht in ihre Augen. Am liebsten hätte sie weggesehen, aber sie konnte es nicht.
"Was ich von euch möchte?", wiederholte er leise und seufzte. "Nun, zu Anfang wollte ich nur jemanden haben, mit dem ich mich unterhalten konnte. Ich war so lange allein, dass ich fast verlernt habe, wie es ist, einen anständigen Gesprächspartner zu haben. " Er schüttelte den Kopf. "Aber ihr habt mich enttäuscht. Ihr habt mich gekränkt und gedemütigt. Das kann ich euch nicht verzeihen, so reizend ihr auch sein mögt."
Die Mädchen zuckten bei dem Klang seiner wütenden Stimme zusammen.
"Was? Aber Sie müssen verstehen, dass wir total geschockt waren!", sprudelte es aus Nina heraus. "Man sieht ja auch nicht alle Tage einen Dämon aus dem Nichts aufsteigen. Denken Sie doch mal nach, wie das wäre, wenn Ihnen das passieren würde. Sie wären wahrscheinlich auch nicht so angetan davon gewesen, oder?"
Der Dämon lachte auf und schüttelte erneut den Kopf.
"Du magst Recht haben, mein Kind, aber trotzdem ändert das nichts an meinem Entschluss."
"Was für ein Entschluss?", fragte Louise, obwohl sie es lieber nicht wissen wollte. Ihre Fantasie spielte verrückt. Das war nicht gut.
Ein fieses Grinsen legte sich auf die Lippen des Dämons.
"Ihr werdet meine Gefährtinnen sein. Für den Rest eures Lebens. Ihr müsst mir gehorchen, mir meine Wünsche erfüllen und bei mir sein. Das habe ich mit euch vor."
Er kam eine Stufe weiter hoch und um ihn herum waberte es dunklen Rauch. Sein Blick heftete sich auf Louise, die ihn entgeistert anstarrte.
"Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?"
"Du musst wissen, Louise, dass ich nie spaße. Merke dir das, meine Liebe", sagte er und als er ihren Namen aussprach, ging ein Zittern durch ihren Körper und sie hatte Mühe, sich auf den Füßen zu halten.
"Louise, was geht denn mit dir ab?", rief Nina. Der Dämon wandte sich ihr zu.
"Deinen Namen kenne ich noch immer nicht. Das ist wahrlich eine Schande, aber das kann man sehr schnell ändern."
"Träumen Sie weiter, Mann! Oder Dämon. Was auch immer Sie sind. Wir lassen uns nicht so einfach von einem dahergelaufenen Typen wie Ihnen verarschen. Schreiben Sie sich das selbst mal hinter die Ohren!", schrie Nina ihn an, zog ihre Freundin hinter sich her und stürmte durch die andere Tür, die der ihnen bereits bekannten gegenüber lag.
Hinter ihnen hörten sie einen mehr als wütenden Zornesschrei, der ihnen durch Mark und Bein fuhr. Doch als Nina die Tür hinter ihnen wieder zuschlug, verstummte der Schrei und sie fanden sich in einem dunklen Raum wider.
"Scheiße, Nina! Wieso bist du nicht in den anderen gegangen? WIr wissen doch nicht, was für eklige Viecher hier vielleicht rumkriechen können!", rief Louise, die sich wieder gefangen hatte.
"An sowas denk ich doch nicht, wenn mir ein Dämon erzählt, was ich in fünfzig Jahren zu erwarten habe! Das ist voll mega-unheimlich! Da denkt mein Gehirn nicht richtig." Sie wandte sich ihrer Freundin zu. "Und sei froh, dass ich dich da raus geholt hab. Du hast ausgesehen, als hättest du 'nen Anfall oder so."
Louise blieb stumm. Sie wollte sich nicht daran erinnern, was mit ihr passiert war, als der Dämon ihren Namen ausgesprochen hatte. In irgendeinem Buch hatte sie mal gelesen, dass die Menschen, die den Namen eines Dschinn kannten, mit ihm anstellen konnte, was sie wollten. Jemand Fremden den eigenen Namen preiszugeben war also doch keine so prickelnde Sache.
Sie seufzte und fuhr sich durchs Haar. "Du hast doch eine Lampe dabei, oder?"
"Oh, stimmt genau."
Sofort erhellte die Killer-Lampe von Ninas Dad den Speicher, der dem anderen genau gleich sah. Nur dass sich ungefähr in der Mitte des Speichers eine Art weiße Ausbuchtung befand, die mit der Wand zu ihrer Linken verbunden war.
"Hm", machte Nina und ging voraus. "Nichts besonderes hier."
Louise folgte ihrer Freundin und sah sich um. Sie hatte Recht, hier war wirklich nichts Besonderes. Als Nina bei der merkwürdigen Ausbuchtung angelangt war, blieb auch Louise stehen.
"Da geht's wohin", stellte sie nüchtern fest und machte die Tür auf, bevor Nina sie stoppen konnte. "Was denn? Schlimmer als der Dämon da draußen kann's ja kaum werden, oder?"
Und tatsächlich führte eine alte Steintreppe nach unten. Sie stiegen sie hinab und kamen dann in einem ziemlich engen und muffigen ... Wandschrank an? Er erinnerte Louise an den Schrank unter der Treppe, in dem der arme kleine Harry Potter leben musste.
"Hm", machte sie und stieg vorsichtig über die Pinsel, Farbeimer und was noch nicht alles hinweg. Am Ende stand eine Tür einen Spalt weit offen. Behutsam lugte sie dahinter hervor und erkannte die Tische wider, die neben der Treppe standen. Sie befanden sich in der Treppe im Speicheraufgang.
Im Flüsterton erklärte sie Nina, wo sie waren und was sie zu tun gedachte.
"Bestimmt ist der Dämon noch da. Oder oben. Egal, auf jeden Fall noch zu nahe. Also stürmen wir aus dem Schrank hier und nach draußen. Wir schauen nicht zurück oder so, einfach nur vowärts, okay?"
Nina nickte. Sie schaltete die Lampe aus und atmete tief durch.
"Los geht's."
Sie huschten beide aus der Tür und rannten das kurze Stück auf die graue Tür zu. Nina riss sie auf und Louise knallte sie hinter sich zu. Das gleiche machten sie mit der anderen Tür, die nach draußen in den kalten Gang führte. Ihre schnellen Schritte hallten im ganzen Obergeschoss wider, doch darauf achteten die beiden Mädchen nicht. Sie rannten wieder nach unten zu ihren Spinden und nachdem sie wieder Luft bekamen, verstauten sie ihre Verteidigungswaffen, die glücklicherweise nicht zum Einsatz gekommen warne, im Spind.
Nina war heilfroh, ihren Schlüssel wieder zu haben und aß vor Freude gleich den Vorrat an Schoki auf. Louise lachte und war froh, dass das geklärt war. Nie wieder würden sie da hoch gehen. Nie...

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"Boah, ich hab echt keine Ahnung, wie ich den Tag überstehen soll", maulte Louise und ließ den Kopf auf ihre Tasche fallen, die auf ihrem Tisch lag, und seufzte schwer. Neben ihr saß Nina, den Kopf gesenkt und die strubbeligen Haare lugten unter ihrer orange-braunen Mütze hervor, die sie aussehen ließ wie ein "Gangsta". So jedenfalls hatte es Natalie beschrieben, die sie vorhin auf dem Gang getroffen hatten.
"Ich auch nich", antwortete Nina übel gelaunt und schaute mit kleinen Augen auf. "Ich konnte heute wieder nicht schlafen. Ist das normal?"
"Weiß nicht", wich Louise ihr aus. Auch sie hatte die Nacht kein Auge zugetan, ohne von rauchenden Dämonen mit goldenen Augen zu träumen. Schrecklich. Wenn das so weiterging, würden sie echt zum Psychiater rennen müssen. Was definitiv nicht lustig wäre. Ganz und gar nicht.
Louise seufzte erneut und rieb sich die pochenden Schläfen. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand das Gehirn rausziehen wollen. Nicht sehr angenehm.
Sie hatten Deutsch, Englisch und gerade Geschichte gehabt. Aber es würde noch sehr viel schlimmer kommen. Mathe. Allein das Wort barg Depressionen in sich. Jedenfalls für Louise und Nina. Sicher auch für ein paar andere Schüler, aber die fühlten sich auch nicht wie wandelnde Leichen . Und sahen auch nicht so aus.
Es dauerte noch eine Weile, bis ihr Mathelehrer Herr Schmidt, auftauchte. In dieser Zeit versuchte Louise die Stimmen ihrer Mitschüler irgendwie auszublenden und an gar nichts zu denken. Was auch klappte, aber dann beschlich sie ein sehr unangenehmes Gefühl. Ihr Magen zog sich auf merkwürdige Weise zusammen und es war, als würde sie sich drehen. Und irgendwie drehten ihre Beine ihrem Körper voraus, sodass ihr Kopf nicht mehr zum Körper gehörte.
Erschrocken riss sie den Kopf hoch und sah sich um. Sie war im Klassenzimmer, die Schüler laberten noch immer und Louise drehte sich glücklicherweise nicht mehr. Trotzdem war ein unangenehmes Gefühl zurückgeblieben.
"Urgh."
"Was is'n?", wollte Nina wissen.
"Nichts", wich Louise ihr aus und rieb sich erneut die Schläfen. "Ich muss nur mal früher ins Bett." Und vorher vielleicht ein paar Schlaftabletten schlucken, dass ich keine Albträume kriege, dachte sie sich und schüttelte missmutig den Kopf.
"Joah. Wär sicher nicht schlecht", stimmte Nina ihr zu und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. "Mir tun die Augen auch voll weh. Sollte wohl auch mal früher ins Bett."
"Ja."
Das halbherzige Gespräch verstummte, als der Lehrer hereinkam und mit seinen mathematischen Foltermethoden begann. Völlig fertig verließen die beiden Freundinnen am Ende der Stunde als erste das Klassenzimmer und flüchteten sich in die Bibliothek, die jedoch von einer Schar von Fünftklässlern übervölkert war, die sich davor drückten, in die eisige Kälte auf den Pausenhauf zu gehen.
Schnell verließen die beiden auch ihre heiß geliebte Biblo und verzogen sich in den zweiten Stock des anderen Hauses. Hier war es relativ ruhig und sie konnten auf dem Gang etwas essen, obwohl keine von beiden richtigen Hunger hatte.
"Oh Mann. Und dann auch noch Sport", stöhnte Nina und fläzte sich auf eines der schmalen Fensterbretter. Louise stellte sich neben sie und nickte, während sie ihren Apfel verputzte.
"Danach bin ich dann wahrscheinlich so kaputt, dass ich nur noch totmüde ins Bett falle."
"Ja. Wahrscheinlich. Ich werde auf morgen nichts mehr ..." Und dann verstummte sie und hielt mitten im Kauen inne. Louise starrte sie an und folgte dann ihrem starren Blick, der auf einen Punkt gerichtet war, den Louise nicht sehen konnte.
"Eh...Nina?"
Aber sie rührte sich nicht.
"Hallooooo!" Louise wedelte mit einer Hand vor den Augen ihrer Freundin herum, aber auch das half nichts. Louise verzog miesepetrig das Gesicht und puffte ihrer Freundin gegen den Oberarm. Beinahe wäre diese von der Fensterbank gerutscht.
"Was ist los?"
"Das will ich von dir wissen", entgegnete Louise. "Das is ziemlich gefährlich, besonders, wenn du über die Straße läufst oder so. Da kannst du ganz schnell zu Mus verarbeitet werden. Wollte ich dir nur mal so sagen."
"Hä?"
Louise hob eine Braue. "Was war das denn eben?"
Nina antwortete nicht sofort, sondern zuckte nur vage mit den Schultern und biss von ihrer Schinkensemmel ab. "Seit heute morgen in der Früh seh ich manchmal so komische schwarze ... Fladderdinger." Sie fuchtelte mit der Hand in der Luft herum.
"Fladderdinger?"
"Ja."
"Geht's vielleicht noch ungenauer?"
Nina stöhnte genervt auf und sprang vom Fensterbrett. "Keine Ahnung, wie ich das erklären soll. Ich lauf völlig unschuldig den Gang lang und plötzlich seh ich so 'ne Art schwarzen Rauch vor mir. Will ich den dann genauer anschauen, verschwindet er."
Eine Weile blieb es still, dann nickte Louise. "Aha."
"Mehr haste nicht zu sagen?" Nina hörte sich vorwurfsvoll an.
"Was soll ich dazu denn bitte Großartiges sagen? Ich hör ja auch nicht alle Tage, dass jemand schwarzen Rauch in der Weltgeschichte rumfliegen sieht", verteidigte Louise sich und seufzte laut.
"Mir war vorhin in Mathe so komisch. Als ich die Augen zugemacht hab, hab ich mich gefühlt, als würde ich mich irgendwie ... drehen."
"Drehen?"
Louise nickte stumm.
"Das is mal komisch."
"Genau so komisch wie dein Rauch."
Nina zuckte mit den Schultern. Dann hielt sie abermals inne und drehte sich zu Louise an, um sie aus großen Augen anzustarren.
"Was? Ist hier irgendwo so'n schwarzer Rauch?", fragte diese panisch und wedelte um sich herum.
"Was? Nein!"
"Oh, Mann, Nina! Erschreck mich doch nicht so!", maulte Louise und beruhigte ihren hämmernden Herzschlag.
"Reg dich mal ab. Ne, mir is nur grad was eingefallen."
"Und was?"
Nina senkte ein wenig die Stimme, als sie antwortete: "Könnte es vielleicht sein, dass dieser Dämon was damit zu tun hat?"
"Womit? Mit deinem Rauch und meinem Drehen?"
"Kann doch sein, oder?"
Louise grübelte einen Augenblick darüber nach, dann stieß sie ein genervtes Stöhnen aus und fasste sich an den Haaren. "Argh! Mein Kopf platzt grad! Dieser scheiß Kerl! Kann der seine schwarzen Griffel nicht woanders reinstecken?!"
"Louise! Schrei nicht so rum! Die können dich sonst hören!", ermahnte Nina sie und sah sich um. Mehrere Siebtklässler waren schon wieder auf dem Gang und sahen Louise mit seltsamen Blicken an. Als würde da eine Irre stehen.
"Sorry." Sie atmete tief durch und meinte dann: "Gehen wir lieber schon mal ins Klassenzimmer. Da schwirren vielleicht keine schwarzen Viecher rum."
"Joah."
NIna folgte ihr ins Klassenzimmer und sie nahmen Platz. Die Geographie-Stunde ging mehr als schleichend vorbei und nach der Stunde konnte Louise immer noch nichts mit dem Begriff "El-Nino" anfangen, obwohl sie die ganze Stunde darüber geredet hatten. Sie bekam einfach nichts in ihren Kopf rein. Zum Glück hatten sie jetzt Religion, da musste Louise nicht so viel mitarbeiten. Zumal sie ganz hinten saß.
Sie wünschte Nina viel Spaß bei ihrer verhassten Reli-Lehrerin und ging dann in ihr Klassenzimmer. Kurz bevor sie das Zimmer betrat, wurde ihr wirklich bewusst, wo sie war.
Sie stand direkt vor dem Speicheraufgang!
"Scheiße!", fluchte sie lautstark und rannte so schnell es ging in das Klassenzimmer. Sie verkroch sich ganz hinten und hielt die ganze Stunde den Kopf gesenkt. Sie wollte nichts von irgendwelchen religiösen Kriegen hören, nur weil die Typen sich nicht entscheiden konnten, welche Religion nun die richtige war.
Zum Glück bin ich Atheistin, kam ihrin den Sinn und sie lehnte sich ein wenig entspannter zurück.

Open

Während der Mittagspause und der darauffolgenden Freistunde redeten die beiden Freundinnen nicht viel. Die anderen Mädels, mit denen sie immer rumhingen, quatschten dafür umso lauter und mehr. Manchmal fragten sie die beiden, was los sei, aber dann zwangen sie sich zu einem Lächeln und sagten, es sei nichts.
Was natürlich überhaupt nicht stimmte.
Seit diesem blöden Tripp hoch in den Speicheraufgang war gar nichts mehr so, wie es zuvor gewesen war. Und irgendwie hatte Louise das Gefühl, dass es noch lange nicht vorbei sein würde. Und es noch schlimmer kommen würde.
Sehr beruhigende Gedanken, grummelte sie stumm in sich hinein, fläzte sich in den Stuhl ganz hinten in dem leeren Klassenzimmer und lehnte den Kopf gegen die Wand.
"Nina, ich stöpsel mich jetzt mal aus der Welt hier aus, okay?"
Nina, die sich eine Reihe weiter auf den Boden direkt vor der warmen Heizung gesetzt hatte, antwortete mit einem undefinierbaren Murmeln und versank dann wieder in ihr Buch. Ein wirklich seltsames Buch, wenn man das anmerken darf. Louise hatte die erste Seite gelesen und nichts kapiert, aber die ganze Zeit lachen müssen. Sicher lesenswert für verzweifelte Mädchen.
Louise fummelte sich die orangen Ohrstöpsel in die Ohren und schloss die Augen. Dann ließ sie sich von Adam Lambert berieseln. Seine wunderschöne Stimme füllte ihren ganzen Kopf aus und nahm ihr Denken ein, sodass sie sich nur auf dieses Lied konzentrieren konnte.
Ihr Burder, Tobias, hatte ihr aus reinster Geschwisterliebe die Lieder auf ihren MP3-Player kopiert. Der hatte ja jetzt genügend Zeit, da er die Schule abgeschlossen hatte.
Und ich, arme Sau, häng hier noch rum und muss mich mit irgendeinem übernatürlichen Scheiß rumärgern, als hätte ich nicht schon genug Stress, maulte Louise innerlich rum und stöhnte auf.
Sie wusste nicht, wie viele Lieder lang sie vor sich hingedöst hatte, aber genau in dem Augenblick, als Josh Groban zum Singen ansetzte, rüttelte jemand heftig an ihrer Schulter. Erschrocken riss sie die Augen auf und hatte den Mund schon zu einem Entsetztensschrei geöffnet, als sie Nina erkannte.
Sie sagte irgendwas, aber die Stöpsel hingen noch in ihren Ohren. Schnell zog Louise sie mit einem PLOPP! raus.
"Was denn?"
"Mann, wir verpassen gleich Bio! Beeil dich mal!"
Louise warf einen Blick auf ihre Uhr. "OH, shit!"
"Ja, genau das."
In Windeseile kramten sie ihr Zeug zusammen, spurteten vollbepackt aus dem leeren Klassenzimmer, die Treppe runter und zum Spind. Irgendwie schaffte Louise es, ihren Sportbeutel rauszuziehen, ohne die ganzen Bücher mit rauszuschmeißen. Dann rasten sie den Biotrackt entlang und ins Klassenzimmer.
Wie durch ein Wunder kamen sie noch rechtzeitig. Herr Hanse hatte den Unterricht zwar noch nicht begonnen, aber er stand schon startbereit am Pult und warf den ganzen Schülern, die sich noch lautstark unterhielten, finstere Blicke zu. Ganz offensichtlich hoffte er, mit diesen Blicken ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu erregen, aber da fehlte es noch weit. Während Louise ihr ganzes Zeugs auf den Boden legte, überlegte sie, ob die Lehrer es wohl je kapieren würden, dass, wenn sie Schüler mit vielsageden Blicken bombardierten, das noch lange nicht hieß, dass die Schüler das auch mitbekamen. Meistens wollten sie das ja auch gar nicht.

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Nach der Biologiestunde - Louise und Nina hatten keinen blassen Schimmer, worum es überhaupt gegangen war - kramte Louise ihre sieben Sachen (und das wörtlich) zusammen und stürmte aus dem Klassenzimmer, nachdem sie Nina ein schnelles "Bis Morgen" hingeblättert hatte. Nina hatte Sportunterricht im Gymnastikraum der Schule, während Louise mit dem Bus in die Stadt fahren musste.
"Ich frag mich echt, womit ich dieses Schicksal verdient habe", murmelte sie schlecht gelaunt vor sich hin und rannte an den anderen Schülern vorbei in den Bus. Der Busfahrer sah sie voller Missmut an und sie begrüßte ihn auch nur halbherzig. In der ersten Reihe war noch Platz und sie quetschte sich in den Sitz und ließ ihre etlichen Taschen - mitsamt Badminton-Schläger - auf den Sitz neben sich fallen. Es dauerte noch ungefähr zwei oder drei Minuten, bis auch die restlichen Schüler, die dieses Los gezogen hatten, eingestiegen waren und der Bus fuhr endlich los.
Während Louise mit einem Mädchen aus ihrem Kurs zusammen versuchte, so etwas wie Badminton hinzukriegen, wurde es draußen immer dunkler. EIgentlich mochte sie Badminton, aber heute war einfach nicht ihr Tag. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen und ihr Nacken schmerzte wie die Hölle.
Irgendwann verkündete ihr Lehrer, dass sie das nächste Mal Noten machen würden und ihre Laune sank noch tiefer.
"Na, super", maulte sie leise in sich hinein, während sie zurück zu ihrem Spielfeld schlenderte. Ihr Blick wanderte die Halle hinauf und zu den Fenstern, an denen schwarze Vögel aufgeklebt waren. Ohne jegliche Vorwarnung raste ein heftiger Schmerz durch ihren Kopf und sie unterdrückte ein Keuchen.
"Louise, alles ok mit dir?", ertönte Petras Stimme hinter ihr.
"Ja, klar", brachte sie heraus und stellte sich auf dem Spielfeld auf. Bevor Petra den Aufschlag machte, warf Louise einen weiteren Blick zu den Fenstern und ihre EIngeweide zogen sich schmerzhaft zusammen.
Die Vögel bewegten sich.
Sie schienen auf dem Fenster herumzufliegen, ihre goldenen Augen starrten unablässig hinab zu Louise, die mit offenem Mund zu ihnen hinaufstarrte.
"Louise!", rief Petra und als Louise sich ihr zuwandte, traf sie der Ball voll im Gesicht. Sie fluchte und rieb sich die Stirn.
"Tut mir Leid! Ich hab nicht aufgepasst!", entschuldigte Petra sich überschwänglich, aber Louise schüttelte nur den Kopf.
"Alles ok. Machen wir weiter."
Eine weitere halbe Stunde später wurden sie endlich entlassen. Louise rannte so schnell sie konnte aus der Halle. Es waren genug andere da, die aufräumen konnten. Ihre Kopfschmerzen brachten sie förmlich um. Als die anderen Mädchen hereinkamen, war Louise schon längst verschwunden. Sie rannte den Gang entlang und schnaufte schwer. Sie wollte so schnell wie möglich daheim sein, um so viele Kopfschmerztabletten wie möglich zu nehmen.
Louise rannte durch die Tür und eiskalte Luft schlug ihr entgegen, die ihr den Atem verschlug.
"Verdammt! Ist das kalt!", rief sie aus und sprintete trotzdem die Treppen hoch. Ein Bus fuhr nicht mehr, also musste ihr Dad sie nach der Arbeit mit nach Hause nehmen. Ihr Treffpunkt war immer auf dem Parkplatz der nahegelegenen EInkaufsmeile. Ungeduldig wartete Louise an der Ampel und sah sich um. Es war recht viel Verkehr, denn die meisten Leute hatten jetzt Feierabend.
Urplötzlich zuckte sie heftig zusammen und griff sich an den Kopf. Sie spürte, wie es hinter ihren Schläfen pochte und sie biss sich fest auf die Zunge, was ihr aber nur die Tränen in die Augen trieb.
"Argh", stöhnte sie leise und lehnte sich kurz gegen die Ampel. "Was ist das?"
"Deine Bestrafung."
Sie riss ihre Augen auf und sah sich wild um. Sie stand alleine an der Ampel und niemand war in der Nähe.
"Was ...?"
"Du bist selbst schuld, Louise. Du hättest mich nicht derart beleidigen dürfen."
Und dann wurde es ihr klar: Die Stimme erklang in ihrem Kopf. Sie runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf.
"So ein Schwachsinn. In meinem Kopf redet keiner. Ich bin ja kein Psychopat."
"Da irrst du dich aber gewaltig, meine Liebe", lachte die Stimme in ihrem Kopf und sie erstarrte. Dieses Lachen hatte sie schon einmal gehört. Die Stimme war so tief und rau, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief.
Der Dämon!, dachte sie schockiert und reagierte nicht einmal, als die Ampel auf grün umsprang.
"Ganz recht."
"Aber ... das ist unmöglich! Wie ...?"
"Die Frage ist nicht wie, Louise." Beim Klang ihres Namens bekam sie eine Gänsehaut. "Die Frage ist, was du daraus machen wirst."
"Was ... meinen Sie damit?"
Er lachte leise auf. "Nun, ich glaube kaum, dass irgendjemand dir Glauben schenken wird, wenn du es einem Außenstehenden erzählen wirst, nicht wahr? Ich bin gespannt darauf, wie du und deine kleine Freundin damit umgehen werdet." Sein Lachen wurde mit jeder Sekunde leiser, bis es ganz verschwunden war.
Louise stand geschockt und leichenblass an der Ampel, die mittlerweile wieder auf rot gesprungen war. Sie starrte fassungslos auf die Straße und konnte kaum glauben, was eben passiert war. Sie brachte keinen Ton raus, aber ihre Gedanken rasten wie wild in ihrem Kopf rum.
"Scheiße", fluchte sie leise und rieb sich über die Schläfen. "Er war in meinem Kopf!"
Nach ein paar Minuten rannte sie wie verrückt über die freie Straße und sprang beinahe ins Auto ihres Vaters, der sie erstaunt musterte. Aber sie sagte kein Wort, bis sie daheim angekommen waren, wo sie sogleich nach oben rannte und sich in ihrem Zimmer verbarriakdierte.
"Was geht hier bloß ab?", flüsterte sie und rutschte an der Tür runter, bis sie am Boden hockte. "Hilfe..."

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Albträume waren vorprogrammiert. Natürlich. Sie träumte von irgendwelchen schwarzen Riesenvögeln, die sie mit ihren goldenen Augen mordlüstern verfolgten und knapp über ihren Kopf hinwegflogen und ihr beinahe ein paar Haarbüschel mit herausrissen. Und dann war da noch diese krächzende Stimme des Dämons, dievon nirgendwo und überall her ertönte.
Nachdem sie schweißgebadet wieder aufwachte, konnte - und wollte - sie sich an nichts mehr erinnern. Sie hievte sich aus dem Bett, wankte nach unten in die Küche und trank etwas Wasser. Müde wandelte sie die Treppe wieder hinauf und legte sich zurück ins Bett.
Aber schlafen konnte sie nicht mehr.
Den Rest der Nacht lag sie dösend im Bett, starrte in die gähnende Schwärze ihres Zimmers und versuchte so wenig wie möglich an die Vorfälle denken, die ihr in den letzten Tagen widerfahren waren.
In der Schule konnte sie sich auf nichts konzentrieren und brachte die Lehrer damit in den Wahnsinn, wenn sie es wagten, sie aufzurufen.
Selber Schuld, dachte Louise grummelnd und fläzte sich in ihren Stuhl in der Bibliothek. Den ganz außen. Nina saß neben ihr. Auch sie sah nicht gut aus. Blass, dunkle Augenringe. Wie ein Zombie.
Das wird echt zum Dauerzustand.
"Jo", machte Louise und wandte den Kopf schwerfällig zur Seite.
"Hm?", grummelte Nina, die wie tot in dem roten Schwingsessel hockte.
"Hast du wieder irgendwelche komischen Sachen gesehen?"
Zuerst antwortete Nina nicht, dann aber atmete sie tief durch und nickte. "Überall sind diese Teile. Na ja, nicht überall. Nur in der Schule. Wenn ich vom Gelände runtergeh, sind sie weg. Einfach so." Sie klatsche mit den Händen und machte "Schwupp!"
"Na, ist doch toll. Wenigstens daheim hast du deine Ruhe."
"Glaubste ja selber nicht! Ich hab die ganze Zeit Angstzustände, dass sich die Vieher auch bei mir daheim irgendwann blicken lassen. Der totale Horrortrip!"
Louise brachte ein schiefes Grinsen zustande, mehr nicht.
"Und wie geht's dir so? Du siehst auch nicht grade super aus."
"Danke. Mir geht's ... umwerfend."
"Ironie."
"Jep."
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Nina leise: "Und ... was genau erzählt er dir so?"
Louise hatte ihr heute Morgen erzählt, was gestern nach Sport passiert war. Natürlich war diese voll von den Socken gewesen.
"Nicht viel. Gestern war das erste Mal, dass ich ihn gehört hab. Und ich hoff auch das letzte Mal. Aber das bezweifle ich stark."
Nina nickte schweigend.
"Verdammt, so ein Scheißdreck", murmelte Louise und seufzte tief. "Wenn wir da nie hochgegangen wären, wär das alles nicht passiert."
"Ja, schön, aber das hilft uns jetzt nicht viel."
"Vielleicht, wenn wir uns irgendwie ... bei ihm entschuldigen würden?"
Nina lachte schnaufend. "Und was glaubst du, macht der mit uns? Der wird uns erst gar nicht zu Wort kommen lassen. Wahrscheinlich frisst er uns, oder steckt uns in irgendwelche Mini-Wasserflaschen, in denen wir dann Jahrhunderte lang rumgammeln müssen und er hat freies Spiel und -"
"Du hörst dich an, als würde uns ein Weltuntergang bevorstehen!"
"Tut's auch! Jedenfalls für uns."
Eine Weile Stille. Dann meinte Nina: "Irgendwas müssen wir machen."
"Meine Rede."
Sie überlegten. Nichts kam bei raus. Entweder würden sie bis an ihr Lebensende Stimmen bzw. merkwürdige Gestalten sehen und hören, oder sie würden in Einwegflaschen gesteckt werden und auf dem Speicheraufgang verrotten.
Oder - aber daran wollten sie nicht mal denken - er würde sie töten.
"Aber was hat er davon?", fragte Louise sich leise.
"Was?"
"Ich hab überlegt, wenn er uns umbringt, was er dann davon hat?"
Nina starrte sie aus riesigen Augen an. "Stehst du auf Droge oder so?!"
Louise winkte genervt ab. "Wieso? Man muss an alles denken."
"Du laberst grade über unseren Tod! Wir sind erst siebzehn!"
"Bald achtzehn."
"Toll. Dann stirbst du eben volljährig."
"Du hast doch selber gesagt, wir müssen an alles denken, oder nicht?"
Nina verstummte und sagte nichts mehr. Dann gongte es zur zweiten Stunde und trübselig schlenderten sie dorthin. Unterwegs nervten die "schwarzen Fladderdinger", wie Nina sie so treffend bezeichnet hatte. Aber als sie dann in Psycho saßen - umgeben von diesen Viechern - schrieb Nina etwas auf einen Zettel und schob ihn zu Louise rüber.
"Sie haben sich verändert."
"Und wie?", schrieb Louise drauf und schob den Zettel unauffällig zu ihrer Freundin, während sie dem Unterricht folgte. Oder zumindest so tat.
Nina kritztelte etwas darauf. "Sie haben irgendwie Gestalt angenommen. Sie sehen ... fester aus. Fast so, als könnte man sie anfassen."
"Haben sie ein Gesicht?"
Als Nina das las, erschauerte sie. "Schwer zu sagen. Augen auf jeden Fall. Goldene."
Diesmal rann Louise ein Schauer über den Rücken. "Ich hab gestern in Sport diese aufgeklebten Vögel gesehen, wie die lebendig geworden sind. Und die hatten auch goldene Augen."
"Unheimlich."
"Kannste laut sagen, Mädchen."
Damit stellten sie ihren "Redefluss" ein und hingen jeweils ihren Gedanken nach. Louise war nach fünf Minuten so verwirrt, dass sie einfach alles über den Haufen schmiss und nun wirklich dem Unterricht folgte - so erstaunlich das auch klingen mochte.
"Hey, Louise!"
Sie zuckte zusammen und sah auf. Nina und sie saßen im Klassenzimmer von Latein und warteten, bis die Pause vorüber war.
"Was?"
"Willst du heute mit zu mir? Wir könnten ein paar Mangas lesen."
Louise dachte darüber nach, dann zuckte sie die Schultern. "Klar, warum nicht. Ich geh mal schnell meine Mum anrufen, okay?"
"Jup."
Louise nahm ihr Handy und schlenderte damit aufs Mädchenklo. Gott sei Dank, es war leer. Sie musste nicht lange warten, bis ihre Mum abhob.
"Hey, Mama. Ich wollt fragen, ob ich nach der Schule mit zu NIna kann."
Sie überlegte einen Augenblick, dann antwortete sie: "Na gut." Hört sich nicht begeistert an. "Aber nicht zu lange, ja?"
"Geht klar. Danke. Bis später dann."
"Tschüss. Und pass auf dich auf, ja?"
Louise nickte genervt. "Ja, immer."
"Gut, tschüss. Und viel Spaß."
"Danke. Bye."
Louise legte auf und lehnte den Kopf gegen die kühle Wand.
"Das wird lustig", flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf und lachte leise auf. Louise erstarrte und umklammerte ihr Handy.
"Geh. Raus. Aus. Meinem. Kopf!"
"Nein."
"Sie können mich verstehen?"
"Natürlich kann ich dich verstehen. Was glaubst du denn, meine Liebe?"
Louise war sprachlos. Sie hatte gewusst, dass sie ihn hören konnte, aber dass das umgekehrt auch klappte war ... schockierend. Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
"Kann ich Sie was fragen?"
"Selbstverständlich, aber nur wenn du mich mit Du ansprichst." Er lachte entzückt auf. Louise verzog angeekelt das Gesicht.
"Na gut. Also, warum machst du das alles? Kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen? Bitte?", fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
"Nein, das will und kann ich nicht."
"Und wieso nicht?"
"Hm... erstens, weil es einfach zu viel Spaß macht. Und zweitens seid ihr mir noch etwas schuldig."
"Wir schulden Ihnen ... dir gar nichts!", rief sie verärgert aus und starrte sie in dem Spiegel an. Ein heftiger Schauer lief durch ihren Körper, als sie sich ihre Augen näher betrachtete. Normalerweise waren sie grau mit grünen Sprenkeln. Aber jetzt hatten sie einen goldenen Schimmer angenommen. Ihr klappte der Mund auf.
"Oh doch. Ich bin enttäuscht von dir, Louise. Sag bloß, du hast das vergessen!"
"Was denn?", zischte sie ihrem Spiegelbild zu.
"Ich habe euch beide - dich und deine kleine Freundin - zu meinen Gefährtinnen ernannt. Ihr werdet mit mir zusammenleben. Früher oder später werdet ihr zu mir zurückkehren." Er lächelte hämisch. Und Louise auch. Sein Lächeln schien sich auf ihrem eigenen Gesicht zu manifestieren und durchzuscheinen. Entsetzt schlug Louise sich auf die Wangen.
"Du spinnst ja vollkommen! Also ob wir das machen würden!"
"Es ist keine Frage, die euch betrifft. Ich habe entschieden."
"Ach, ja? Und wer bist du, dass du einfach entscheiden kannst, was mit uns abgeht?"
"Meine Güte, wie unhöflich von mir!", rief er aus und seine Stimme hallte in ihrem Kopf wider. "Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Wenn Sie gestatten, Signora, Luigi Andolini, mein Name."
Ein Italiener? Das wird ja immer lustiger.
"Wow, toll. Schön für dich. Meinen Namen kennst du ja schon. Leider. Ist doch scheiß egal, wie du heißt! Du hast kein Recht, uns so was anzutun, also verpiss dich gefälligst!"
Sie stand schnaubend und mit erhobenem Zeigefinger vor dem Spiegel und schrie sich selber an.
"Eh. Entschuldigung", räusperte sich jemand von der Tür her. Louise fuhr herum und starrte ein verängstigtes Mädchen an.
"Oh." Louise wurde die Situation klar, sie errötete heftig, wandte sich vom Spiegel ab und rannte aus dem Klo.
Das kleine Mädchen würde noch Tage danach an dieses Furcht erregende Gesicht denken müssen und sogar Albträume davon bekommen.

Open

"Stell dir vor, der Dämon hat sogar nen Namen", unterrichtete Louise ihre Freundin auf dem Weg zum Bahnhof. Es war kalt und regnerisch, verdammter Herbst. Eigentlich war der Herbst ihre liebste Jahreszeit, aber sie hatte begonnen, ihn abgrundtief zu hassen. Und dabei spielten die letzten Ereignisse eine entscheidende Rolle.
"Wow", machte Nina und wich einer Regenrinne aus, die ihren Inhalt nachlässig auf dem Gehsteig verteilte und diesen zu einem kleinen See umgestaltete. "Und wie heißt unser Verehrer?"
"Luigi Andolini oder so ähnnlich."
"Hm. Italiener. Was zur Hölle will ein Italiener hier?"
"Gute Frage."
Eine Weile schwiegen sie, dann hob Louise wieder an. "Wir könnten ihn googeln. Vielleicht steht was über ihn im Internet."
"Einen Versuch is es wohl wert."
"Will ich aber auch meinen."
Während sie den Weg zum Bahnhof wie im Schlaf gingen, plapperten Schüler um sie herum lautstark, aber es war erstaunlich: Sie störten die Gedanken der beiden Mädchen keineswegs. Früher hätten sie Mordgedanken bekommen, weil die kleinen Pimpfe sie einfach anrempelten ohne sich zu entschuldigen oder ihren Drecksmüll auf der Straße rumschmissen. Aber jetzt hatten sie genug andere Probleme, als sich darum zu kümmern.
Sie nahmen eine Abkürzung und der Lärmpegel reduzierte sich etwas. Der Kies unter ihren Füßen knirschte. Zu ihrer Linken erhob sich eine brüchige Steinzeitmauer, an deren Ecke ein noch älteres Haus stand. Na ja, man konnte es kaum als Haus bezeichnen. Eine Bruchbude würde dem wohl eher nahekommen. Aber das Gebäude war gar nicht der Auslöser für Louises Panikattacke.
Auf dem Dach hockte eine Horde Krähen und starrte sie aus goldenen Augen grimmig an.
sofort blieben die Mädchen stehen.
"Ach du Scheiße", murmelte Nina und klammerte sich an ihrem Schulranzen fest. In diesem Moment dachte Louise daran, dass man den Rucksack als Waffe benutzen könnte. Wahnwitzig. Aber Not machte bekanntlich erfinderisch.
"Genau wie die Vieher bei Sport", erwiderte Louise ebenso leise, obwohl sie bezweifelte, dass die Lautstärke einen großen Unterschied für die Reaktion der Vögel machte. Sie würden sich ohnehin bald auf sie stürzen, wie ihre Raubtieraugen verraten ließen.
"Alte, das is noch unheimlicher als die Flabberdinger, die in der Schule rumgeistern."
"Ja, weil die in der Schule bleiben und keinen Freilauf kriegen."
"Was machen wir denn jetzt, verdamt?"
Louise überlegte kurz, dann zuckte sie hilflos mit den schultern. "Gehen wir einfach ganz leise und langsam an ihnen vorbei."
Nina starrte sie völlig entgeistert an. "Bist du vollkommen bescheuert? Die stürzen sich auf uns wie in dem Film!"
"Welcher Film?"
Aber Nina winkte ungeduldig ab. "Egal."
"Na toll. Fällt dir etwa was besseres ein?"
"Wegrennen."
Louise schnaubte. "Und du glaubst, dann verfolgen sie uns bestimmt nicht?"
Nina blieb stumm. Ihr Plan würde ihnen ganz sicher viele Schrammen und Kratzer beibringen, wenn's denn dabei blieb. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. "Na gut, aber auf deine Verantwortung."
"Wenn ich dann noch lebe, gerne."
So langsam, als gingen sie auf rohen Eiern, schlichen sie die Gasse hinab und drückten sich an die gegenüberliegende Mauer, die Blicke starr auf das Dach der Bruchbude gerichtet. Es war das Unheimlichste, was Louise je erlebt hatte. Nun ja, in den letzten paar Tagen erlebt hatte. Die Raben - oder Krähen, wie auch immer - folgten den beiden Mädchen mit den glitzernden Goldaugen und drehten dabei nur die Köpfe. Wie Eulen. Nur dass Eulen hübsch und putzig und keine Vorliebe für verängstigte Mädchen hatten.
"Gaaaaaanz langsam", murmelte Nina und schob sich an der Wand entlang. Louise folgte ihr dichtauf. Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust und beruhigte sich erst, als sie den Torbogen erreicht hatten, der sie vom Haus mit den Raben trennte.
sie rasten hindurch und spurteten über die kleine Brücke, durch die enge Gasse und auf die mit Menschen gefüllte Straße. Außer Atem blieben sie an einer Hausecke stehen und brauchten lange, um zu Atem zu kommen.
"Also ... .ehrlich", meinte Nina und schluckte, bevor sie sich aufrichtete. "In den letzten Tagen hab ich mehr Sport gemacht als je in meinem Leben."
Louise nickte nur zustimmend und fuhr sich über das mit kaltem Schweiß benetzte Gesicht. Kalter Wind fegte durch die Straße und ließ sie erzittern.
"Oh, Mann, ich hab echt keinen Bock mehr auf den ganzen Scheiß", maulte sie und atmete ein letztes Mal tief durch.
"Was wollte er damit erreichen?", fragte Nina, als sie sich wieder auf den Weg machten.
"Keinen Peil. Echt nicht", meinte Louise niedergeschlagen, weil sie auf keine verdammte Frage den Hauch einer Antwort hatten. "wenn er uns erschrecken wollte, hat er das mit Bravour geschafft."
"Glaub ich nicht."
"Was?", hakte Louise nach und sah ihre Freundin von der Seite an. Diese blickte ernst drein.
"Dass er uns nur erschrecken wollte. Kann ich mir nich vorstellen. Ich glaub eher, dass es so ne Art Warnung war."
"Aber Warnung vor was? Dass er uns unser Leben lang verfolgen wird? Toll, das wussten wir auch schon vorher."
Stumm legten sie den Rest des Wegs zurück und setzten sich dann immer noch schweigend in ihre Sitze. es war ein Wunder, dass sie um diese Uhrzeit überhaupt einen Sitzplatz ergattern konnten. Kinder rannten herum, manche mussten stehen. Louise sah einen Jungen, der in einer Ecke mit Ohrstöpseln stand, die Kappe tief ins Gesicht gezogen und im Stehen zu Schlafen schien.
"Ehrlich, Zug fahren ist der Hammer. Im Bus ist es immer tödlich langweilig."
Nina hob eine Braue. "Ich muss Zug und Bus fahren, und beides ist gleich beschissen."
Louise zuckte mit den Schultern und sah nach draußen. Auf dem Bahnsteig schlenderten ein paar Leute herum, einige wenige Schüler waren auch noch draußen und warteten auf ihren Zug. Und plötzlich flog ein schwarzer Schatten direkt vor ihrem Fenster vorbei.
"AAAHH! Nina, schau mal!", rief sie und selbst über das Gebrüll der Kinder war sie gut zu hören gewesen. Nina sah auf und legte die Stirn in Falten.
"Was?"
"Da war grad so ein Rabe!", flüsterte sie ihrer Freundin nun eindringlich zu.
"Echt?" Louise nickte heftig. "vielleicht war's ein stinknormaler?"
Louise legte den Kopf schräg und sah ihr Gegenüber vorwurfsvoll an. "Wie viele Raben siehst du hier direkt am Fenster vorbeifliegen?"
Nina zuckte die Achseln. "Keine?"
"Hunder Punkte für die Kandidatin in der braunen Jacke un den zerwühlten Haaren!" Louise lachte beim Anblick von Ninas Gesichtsausdruck auf und lehnte sich dann in ihren Sitz zurück.
"Er verfolgt uns."
"Ja."
Die restliche Fahrt über blieben sie still. Auch als sie umsteigen mussten und mit dem Bus alle Käffer abklappern mussten, wechselten sie kein Wort. Erst, als sie bei Nina daheim angekommen waren, sprachen sie wieder, aber nicht über den Dämon und seine Lakeien. Beim Essen, das Ninas Mum liebevoll zubereit hatte, redeten sie nur über ihre blöden Lehrer, wie viel sie lernen mussten und lästerten über die Sesselpupser im Kultusministerium ab. Dann verzupften sie sich in Ninas Zimmer und vorsichtshalber schloss diese ihre Türe zu.
"Will nich, dass meine kleine Sis reinkommt und uns nervt", meinte sie und fläzte sich in ihren Schreibtischstuhl. Louise ließ sich auf das harte Mini-sofa fallen und guckte von dort aus zu.
"Okay, dann googeln wir den alten Dämon doch mal."
Gespannt blickten die Mädchen auf den Laptop. Endlich kamen die Ergebnisse. Der erste Link verwies auf Facebook.
Sie starrten den Link an, dann brachen sie in Gelächter aus. "Der Alte hat Facebook? Wow! Und ich dachte, der hängt seit Jahren auf dem Speicher rum. Hey! vielleicht ham die da oben Internetanschluss", lachte Nina und klickte auf den Link. Aber sie wurden enttäuscht. Kein Bild, keine Kommentare, weder Freunde noch andere Informationen.
"Ich glaub nich, dass das unser Dämon ist", meinte Louise und Nina nickte zustimmend. "Vielleicht ist der Name in Italien sehr verbreitet?"
"Kann sein. Ich war nur ein paar Mal in Italien, die Sprache kann ich auch nich wirklich. Wir waren immer nur in Südtirol."
"Haha, toll."
Das nächste war eine Hausarbeit verfasst von Luigi Andolini und man konnte die fü 0,99ct runterladen.
"Oh mann, wer schreibt denn bitte über "Die deutschen Christen - Die nationalsozialistische Bewegung in der Evangelischen Kirche Deutschlands"?", fragte Nina und schüttelte den Kopf.
Louise zuckte die schultern. "Ich bin Atheistin."
Die nächsten Seiten waren alles Nieten. Ein Architekt, der mit Nachnamen Luigi hieß, ein Don Eduardo auf Facebook und so weiter. Es dauerte nicht lang, dann waren beide dermaßen deprimiert, dass Nina den Laptop missmutig ausschaltete und sie sich neben Louise auf das sofa hockte.
"Nix."
Louise brummte eine unverständliche Antwort.
"Und jetzt?"
Sie schwiegen.
"Vielleicht gibt's bei uns in der Schule im Archiv irgendeinen Hinweis, wer er sein könnte?", schlug Louise vor.
"Wir haben ein Archiv?"
Louise nickte. "Kaum zu glauben, aber ja, wir haben ein Archiv. Da darf nur nie jemand rein. Außer die Bibliothekarin der Oberstufen-Biblo. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die uns da reinlässt, ist eher gering."
"Wir könnten sagen, dass es für Forschungszwecke für unsere Seminararbeit geht."
Louise dachte kurz darüber nach. "Klingt gut."
"Sicher. Kommt ja auch von mir", grinste Nina.
"Haha."
"Sag mal, wann meldet sich Loui eigentlich immer?"
Louise sah auf. "Wer ist Loui?"
"Na, der Dämon."
"Achso. Ähm....weiß ich nicht. das erste Mal war nach Sport. Das zweite Mal im Klo, als ich meine Mum angerufen hab. Der Typ kommt und geht, wann er will. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie scheiße sowas ist?"
Nina lachte ohne Freude auf. "Nein, und des will ich auch nie."
"ich weiß nicht mal, ob er meine Gedanken lesen kann oder nicht. Oder ob er nur das hören kann, was ich sage. Sowas von frustrierend."
"Hmmm...."
"Können wir uns nich irgendwie von der ganzen Story ablenken? Ich hab keinen bock, die ganze zeit drüber nachdenken zu müssen, ob der Typ mich jetzt abhört oder nicht."
Nina war schon aufgestanden. "Klar. Ich hab nen Anime da, den ich noch nicht kenne."
"Blutig?"
"Glaub schon."
"Gut. Auf geht's."

Open

"Okay, ich hab gegoogelt und bisschen was über Dämonen rausgefunden", eröffnete Nina und setzte sich an Louises Tisch in der Oberstufenbiblo, die noch leer war.
"Ich hab weiter den Andolini gegoogelt, aber nichts gefunden", verkündete Louise nicht so fröhlich wie ihre Freundin. "Lass hören, was du gefunden hast."
"Okay." Nina kramte etliche Blätter hervor, die hinten und vorn eng beschrieben waren. "Tante Wiki erklärt uns, dass Dämonen angeblich ausschließlich bösen Charakters sind. Also sind sie nur dazu da, um Menschen zu erschrecken, zu bedrohen oder Schlimmeres zuzufügen."
"So wie Loui"
Insgeheim hatten sie den Dämon Loui getauft, was ihm entgegen seiner Erscheinung einen harmlosen bis fast putzigen Eindruck bescherte.
"Genau. Also. Das Wort 'Dämon' stammt von Daimon ab, natürlich griechisch, und heißt so viel wie 'Geist der Abgeschiedenen'. Das hört sich ja wohl eher positiv an, aber ab dem Mittelalter haben sie aus den einfachen Geistern einfach bösartige Dämonen gemacht."
"Ts. Ungebildete Bauern", fluchte Louise verhalten.
"Angeblich sollen Dämonen eine niedere Gottheit darstellen, so ein Zwischending zwischen Göttern und Menschen."
"Das ist interessant."
"Ja, fand ich auch. Es gibt einen Haufen verschiedene Mythologien bezüglich Dämonen, aber ich hab mir nur die Römische angeschaut. Die sützt sich auf die Mythologie der Griechen - wie kanns auch anders sein - und des Orients.
Bei den Römern wurden Dämonen als Genien bezeichnet."
"Genie?"
Nina nickte. "Aber kein stinknormaler Genius. Die Römer haben früher ja alles anders verstanden, also war bei denen der Genius ein Schutzgeist für die Menschen, der die jeweilige Persönlichkeit ausdrückt."
"Hab ich das richtig verstanden: Der Dämon - also sprich der Genius - hat den Charakter des Menschen gebildet?"
Nina zuckte mit den Schultern. "Glaub schon. Jedenfalls steht's hier so."
"Huh."
"In Arabien gabs auch ähnliche Schutzgeister, die aber nicht Dämonen oder so genannt wurden, sonder ..."
"Dschinn."
"Ja. Woher weißt du das?"
Louise schnaufte. "Ich hab mal ein Buch gelesen, da ging's auch um Dschinns und Magie und solche Sachen. Da war der Dschinn und so ein Kerl wusste den Namen von dem Dschinn. Und der Dschinn musste dem Typi gehorchen." Ein Schauer lief ihren Rücken hinab. "Unschön."
Nina nickte. "Total. Aber is es hier nich umgekehrt?"
"Wie, umgekehrt?"
"Na, in unserem - beziehungsweise deinem - Fall ist es ja so, dass der Dämon deinen Namen weiß und jetzt machen kann, was er will."
"Er kann nicht machen, was er will. Er kann nur in meinen Kopf reinreden, was mich total ankotzt!"
"Jaja, schon gut. Trotzdem, das Prinzip ist doch das Gleiche, oder?"
Louise nickte missmutig.
"Ich hab auch noch was anderes gefunden, was mehr als unheimlich ist." Sie blätterte in ihrem Papiersee und fischte ein etwas zerknülltes Blatt heraus und hielt es Louise hin.
Darauf stand geschrieben:
'Aber nachdem nun jenes Geschlecht absenkte das Schicksal,
Werden sie fromme Dämonen der oberen Erde genennet,
Gute, des Wehs Abwehrer, der sterblichen Menschen Behüter,
Welche die Obhut tragen des Rechts und der schnöden Vergehung,
Dicht in Nebel gehüllt, ringsum durchwandelnd das Erdreich,
Geber des Wohls: dies ward ihr königlich glänzendes Ehramt.'
"Ist von Hesoid geschrieben worden. Er glaubt, dass die Dämonen die abgeschiedene Seele des Menschen sind. Und kommt dir das bekannt vor?"
Louise nickte.
"Genau. Daimones, Geist der Abgeschiedenen."
"Wow, das ergibt sogar Sinn."
Stolz grinste Nina.
"Das sagt uns, dass der Typi in Schwarz auf unserem Speicher die Seele von Luigi Andolini ist, der mal echt gelebt hat?"
Nina nickte. "Muss wohl so sein."
"Huh. Ist ja alles schön und gut und vor allem interessant, aber eine Frage bleibt trotzdem."
"Was macht der hier in unserer Schule?"
Louise nickte.
"Er hat zu uns gesagt, dass seine Gefolgsleute - was auch immer die sein mögen - ihn verlassen und vergessen haben und er seit Jahren allein da oben rumhängt. Okay, würd mich persönlich auch total ankotzen. Aber deswegen gleich so ausrasten?"
Nina zuckte die Achseln. "Vielleicht war unser Verhalten der Anschubs dafür, dass er sich wie ein total psycho gewordener Dämon verhält?"
"Kann sein, aber was hätten wir sonst tun sollen? Ihn zum Tee bitten und unsre Schokolade mit ihm teilen?"
Sofort schüttelte Nina energisch den Kopf.
"Na also", meinte Louise und seufzte. "Damit können wir jetzt gar nichts anfangen."
"Glaub ich schon."
"Klär mich auf."
"Also", setzte Nina an, "wir müssen noch mal mit ihm reden."
"Sprich, ich muss mit ihm reden, weil er ja in meinem Kopf rumspukt."
Nina grinste entschuldigend. "Genau."
"Und dann? Ich glaub nicht, dass er mir seine gesamte Lebensgeschichte erzählen wird."
"Du musst ihn halt dazu bringen. Bring ihn dazu, stell ein paar Fragen, laber mit ihm. Irgendwann wird er schon was rausrücken."
Louise seufzte. "Anders wirds wohl nicht gehen, oder?" Nina schüttelte den Kopf. "Ich hoff nur, dass ich ihn nicht noch wütender mache. Keine Ahnung, was der alles mit mir anstellen kann."
"Wenn du dich noch komischer als sonst verhältst, dann sag ich dir Bescheid", meinte Nina und grinste.
"Toll. Danke. Jetzt fühl ich mich total sicher."
Pure Ironie. Die Wahrheit war, dass Louise panische Angst hatte. Allein die Tatsache, dass da jemand in ihrem Kopf rumsaß und vermutlich jedes Wort mitanhören konnte, das sie sagte oder sogar dachte, ließ sie verrückt vor Angst werden. Und jetzt musste sie den Dämon auch noch dazu bringen, ihr zu erzählen, wer er war und woher er kam. Und was zum Henker er hier eigentlich machte!
"Ich sollte ein Buch darüber schreiben", überlegte Louise für sich und seufzte. "Damit sich der ganze Schmarrn hier für irgendwas lohnt."

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