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Ein leises, beständiges Surren drang an sein Bewusstsein. Es riss ihn vorwärts, aus dem schwarzen Nichts heraus, in dem sein Geist seit einer Ewigkeit schwebte. Seine Augen öffneten sich. Gleißendes Licht. Sofort setzte der Reflex ein, die Augen fest zuzukneifen, doch sie starrten weiterhin weit geöffnet in den Raum. Sein Körper lag völlig reglos da. Die Muskeln gehorchten ihm nicht. Das Licht schmerzte auf seiner Bindehaut wie Tausende kleiner Messerspitzen. Er schrie in seiner Agonie, meinte, sich die Seele aus dem Leib zu brüllen, glaubte zu spüren, wie sich sein Körper protestierend aufbäumte. Im Raum blieb es totenstill, nicht der geringste Lufthauch regte sich. Kein einziger Laut war aus seiner trockenen Kehle zu hören, sein Körper lag schlaff und wie leblos da, genau so wie schon seit Tagen. Er herrschte völlige Stille, abgesehen vom Surren der medizinischen Geräte, die seinen Körper mit den lebensnotwendigen Maßnahmen versorgten. Er war allein. Mutterseelenallein. Panik raste durch seine Adern. Ihm fehlte jede Erinnerung an... Ja, woran? Wo war er? Warum konnte er sich nicht bewegen? Die Hilflosigkeit drohte ihn wie eine Welle zu ersticken. Erschöpft glitt er in einen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen. Plötzlich stieß etwas sein Gehirn an. Ein leises Gemurmel drang an sein Ohr. Jemand hatte das Zimmer betreten.

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Er konnte nichts sehen. Aber er hörte deutlich, dass jemand im Zimmer war. Er konnte zwei Stimmen unterscheiden. „Jetzt mach schon, hier kommt um die Zeit keiner her.“ – „He, da liegt einer!“ – „Der ist im Koma.“ – „Und was heißt das? Wenn der uns hören kann…“ – „Ist doch egal. Er kann es jedenfalls keinem erzählen. Und selbst wenn er könnte würde er nicht. Also mach schon.“ – „Wie meinst du das?“ – „Ach nichts. Ich kenn den.“ – „Du kennst den? Spinnst du? Wer issn das?“ – „Ist doch egal. Irgend so ein alter Sack. Komm jetzt.“ – „Gehen wir woanders hin.“ – „Was ist los? Kannste etwa nicht?“ – „Klar kann ich. Ich kann immer.“ – „Na dann komm her. Vielleicht träumt der alte Sack was Schönes, wenn er hört, wie wir‘s hier treiben.“ Darauf folgte das Rascheln von Kleidern, die eilig entfernt wurden. Dann konnte er nur noch schmatzende Geräusche und ein leises Knarren hören. Ein wenig später folgten klatschende Geräusche und immer lauter werdendes Stöhnen. Er lag bewegungslos da und wünschte sich, bewusstlos zu werden. Innerlich raste er. Die weibliche Stimme hatte er sofort erkannt. Jana. Wie konnte sie ihm das nur antun? Er begriff nicht, was hier passierte. Hatte er sie nicht sein Leben lang geliebt, mit einer Zärtlichkeit, die er für niemand anderen je empfinden würde? Er konnte nur warten, bis dieser Albtraum ein Ende nehmen würde. Ihm war zum Heulen, aber sogar das Weinen blieb ihm verwehrt. Seine Augen blieben trocken. Irgendwann landete er wieder in Morpheus‘ gnädigen Armen.

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Neue Stimmen weckten ihn aus seinem traumlosen Schlaf. „Aber die Augen sind doch offen.“ – „Es tut mir sehr Leid, aber das bedeutet nicht, dass sich sein Zustand verbessert hat. Es könnte sich um einen Muskelreflex handeln. Er zeigt ansonsten keinerlei Reaktion. Tut mir sehr Leid.“ Seine Augen wurden von kalten, feuchten Fingern zugedrückt. Dunkelheit. Eine Person, wahrscheinlich die mit den kalten Fingern, verließ den Raum. Danach hörte er nach einer kurzen Pause ein schleifendes und dann ein knarrendes Geräusch. „Hörst du mich?“ Die Stimme war plötzlich ganz nahe an seinem Ohr. „Gib mir ein Zeichen. Kannst du mich hören?“ Pause „Ich bin so fertig. Diese ganze Sache, ich halte das einfach nicht aus. Du liegst hier, hast es schön gemütlich, brauchst dich um nichts zu kümmern, sei froh. Da draußen ist die Hölle los. Formalitäten, Bürokratie, ein Albtraum.“ Pause „An was man alles denken muss. Du machst dir keine Vorstellung. Erst wenn es soweit ist, begreift man, was das alles für ein Aufwand ist. Sarg aussuchen, Trauerfeier planen, Testamentseröffnung, Notariatsbesuche, unzählige Telefonate.“ Pause „Naja, das nehmen dir jetzt eh andere ab. Sei froh.“ Pause „Naja, man hilft halt, wo man kann. Irgendwie geht es mich ja auch was an.“ Pause „Ach Thomas, wir hätten uns nicht trennen dürfen, dann wäre das alles nie passiert.“ Pause „War es das etwa wert?“ Pause „Ich muss weg. Jana…“ Wieder das schleifende Geräusch, Schritte, die Türe, dann Stille. Jana. Der Gedanke schmerzte. Wie konnte sie ihm das nur antun. Vierzehn Jahre, mein Gott! Aber da war noch etwas anderes. Ein Toter? Wer? Er hätte die Frage am liebsten hinausgeschrien, aber er blieb stumm.

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Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als wieder Stimmen an sein Ohr drangen. „Jana, nun komm schon, ein paar Minuten kannst du doch noch bleiben.“ – „Wozu? Der kriegt doch sowieso nichts mit.“ – „Jana! Das wissen wir nicht. Vielleicht hört er uns.“ – „Und dann freut er sich sicher tierisch, dass ausgerechnet seine Ex und seine verhasste Tochter da sind. Ja klar.“ – „Jana, bitte!“ – „Na stimmt doch, der hat sich doch nie einen Scheißdreck für mich interessiert. Schon bevor er mit dieser Tussi verschwunden ist.“ – „Jana, er ist dein Vater. Auch wenn du es nicht glaubst, er liebt dich. Auf seine Art.“ – „Erzähl doch keinen Scheiß. Wie oft hat er mich in den ganzen vierzehn Jahren denn besucht? Na, sag doch selber!“ – „Er liebt dich trotzdem.“ – „Woher willst du das wissen? Hat er das etwa behauptet?“ – „Nein, das weiß ich einfach. Ein Vater liebt seine Tochter immer. Geht gar nicht anders.“ – „Ist mir sowieso egal. Der kann mir gestohlen bleiben.“ Pause „Jana, ich geh mir mal schnell einen Kaffee holen. Bleibst du solang hier?“ – „Jaja, ist mir sowieso egal.“ Schritte, die Türe, Stille. „He, du alter Sack, hörst du mich? Ist ganz schön Scheiße hier, was?“ Pause „Aber wart mal bis du aufwachst. Dann fängt’s erst richtig an. Ich hätte das nicht hören sollen, aber ich hab’s mitbekommen. Deine Tussi mussten sie in mehreren Stücken aus dem Auto schneiden. Krass, was?“ Pause „Du sitzt ganz schön in der Scheiße, Mann. Was für ein Idiot setzt sich ans Steuer, wenn er so besoffen ist?“ Pause „In deinem Alter. Wenn ich das tun würde, würd ich’s ja noch verstehen. Wenn ich dann den Führerschein mache, meine ich. Aber du, wie kannst du das tun? Verdammte Scheiße!“ Schluchzen. „Du hast Familie, Mann. Du hast eine Tochter, falls du das noch nicht vergessen hast.“ Schluchzen. „Aber ist sowieso alles egal.“ Die Türe, eine zweite Stimme. „Jana, Schätzchen! Was ist denn los? Wein doch nicht. Das wird schon alles wieder.“ – „Ich hab nur was im Auge. Ich heul doch hier nicht wie ein Baby.“ – „Komm mal her. Wir müssen jetzt stark sein. Für Papa. Wenn er aufwacht, dürfen wir ihm nicht gleich sagen, dass Marie tot ist. Wir müssen ihm Zeit geben. Er kann ja für eine Weile bei uns einziehen. Mal sehen. Wenn er will. Alles wird gut. Ich versprech’s dir. Komm, gehen wir heim.“ Schritte, die Türe, Stille. Ihm blieb nur noch die Hoffnung auf den Tod.

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Splitstories

  • Ein Mann liegt im Koma. Er hört die Gespräche der Anwesenden und wünscht sich zum Schluss nur noch den…

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