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Es war sehr still. Zu still. Das gefiel ihr nicht. Stille in einem großen, leeren, dunklen Haus war ihr unheimlich. Lange stand sie einfach nur wie angewurzelt auf der Stelle und zählte vor sich hin. Zählte bis fünfzig. Eine alte Angewohnheit, die sie aus einer ihrer Therapiestunden mitgenommen hatte. Einmal tief durchatmen und zählen, bevor sie handelte. Meist sah man nach einem tiefen Atemzug klarer.
Zumindest behauptete das ihre damalige Therapeutin. Cora war sich unschlüssig. Das stille Abwarten und Zahlen murmeln machte ihr Angst, denn das Flüstern ihres Echos hallte durch die leeren Hallen. Es hätte auf sie beruhigend wirken sollen, ihre eigene Stimme zu hören, aber dem war nicht so.
Als sie schließlich die fünfzig erreicht hatte, fasste sie neuen Mut und betätigte mit zitternden Fingern den Lichtschalter. Helles Licht flackerte auf und sie musste blinzeln. Als sich ihre Augen wieder geöffnet hatten, sah sie das leere Zimmer, in dem sie stand. Die weißen fensterlosen Wände, der kalte graue Linoleum Fußboden. Ihr ganzer Körper war angespannt gewesen und sie begann sich bereits zu entspannen, da ja offensichtlich nichts Außergewöhnliches vorhanden war, als sie den Fleck bemerkte. Es war nur ein kleiner dunkler Fleck, doch als Cora genauer hinsah, bemerkte sie, dass es ein Blutfleck war. Ehe sie es sich versah wuchs der Fleck, wurde erst zu einer Lache, dann einer Pfütze und nahm schon bald den ganzen Raum ein. Kreischend presste sich Cora an die kalte Wand und sah ohnmächtig zu, wie das Blut anfing den kompletten Boden zu bedecken. Da glaubte sie eisige Hände auf ihren Schultern zu spüren und schrie.

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Da erwachte sie schweißgebadet aus ihrem Albtraum. Keuchend richtete sie sich auf. Sie zitterte. Ihr Atem ging schneller. Es dauerte einige Momente, bis sich ihre Augen zurechtgefunden hatten und ihre Sinne sich beruhigt hatten. Sie seufzte erleichtert auf, obwohl sie eine Gänsehaut bekommen hatte, denn sie war in ihrem gewöhnlichen Zimmer, in ihrem wohligen warmen Bett. Das jetzt durch den Albtraum fast schon zu warm wirkte.

Seit ihrer Therapie hatte sie die unheimlichen Erscheinungen zwar nicht besiegt, allerdings hatte sie gelernt, wie man diese verdrängt. So war sie zumindest tagsüber vor einem Panikanfall sicher. Nachts jedoch, wenn das Unterbewusstsein sich mit dem Bewusstsein mischte, hatte sie noch immer gelegentlich Albträume. Sie waren schrecklich und jedes Mal erwachte Cora schreiend und keuchend.

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Mit zittrigen Händen fuhr sie sich über das mit kaltem Schweiß bedeckte Gesicht und atmete tief durch.
"Alles gut, Cora, keine Panik", flüsterte sie sich beruhigend zu und sie spürte, wie ihr Herz langsam einen gesünderen Rhythmus annahm. Sie langte nach der Nachttischlampe und Licht überflutete das Zimmer. Es war recht groß und hübsch eingerichtet. An der Wand ihr gegenüber hing ein Bild, das ihre Nichte ihr gemalt hatte. Cora wusste zwar nicht wirklich, was es darstellen sollte, aber es machte ihr Angst. Die roten und gelben Kreise, vermischt mit hellem Grün formten sich vor ihren Augen zu einem eckigen Gesicht und sie wusste, was gleich geschehen würde.
Sofort wandte sie sich ab und schwang die nackten Beine über die Bettkante. Auf ihrem Weg durch die großzügige Wohnung ging ihr ein Lichtpegel nach dem anderen voraus. Sie hasste die Dunkelheit. Man konnte nie wissen, was in den Schatten lauern mochte.
Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte, machte sie sich einen besonders starken Kaffee und aß ihr Müsli im Stehen. Es war noch recht früh am Tag, trotzdem wollte sie so schnell wie möglich aus dieser Wohnung raus. Manchmal kam sie ihr nicht wie ein Zufluchtsort vor, sondern eher wie ein Gefängnis ihrer eigenen Schwächen.
Bevor sie sich den Mantel übergeworfen hatte, klingelte ihr Handy.
"Hallo?", meldete sie sich zu Wort. Im Hintergrund hörte sie laute Musik und schallendes Gelächter.
"Hey, Cora!", schrie ihr eine Stimme ins Ohr. Sara. "Ich hoff, ich hab dich nicht geweckt!"
Cora lächelte schwach. "Nein. Gar nicht. Was gibt's denn?"
"Was es gibt?" Der Hintergrundlärm wurde leiser und nun konnte Cora die Stimme ihrer Freundin besser verstehen. "Sag bloß, du hast vergessen, was heute für ein Tag ist."
Sie dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. "Was für ein Tag? Klär mich auf."
Sara lachte ungläubig auf. "Ich fass es nicht! Cora, heute ist dein Geburtstag, Mädchen!"
Eiskalt lief es ihr den Rücken runter, als sie die Worte hörte. Welcher Tag war heute? Ah ja. Der neunte September. Ihr Geburtstag. War sie schon zu jener Art Frau geworden, die vor lauter Arbeit ihren eigenen Geburstag vergaßen? Offenbar. Und es gefiel ihr überhaupt nicht.
"Ach ja, natürlich. Weißt du, ich bin nicht mehr so scharf drauf, meine Geburstage zu feiern. Wer freut sich denn, bitte schön, älter zu werden?"
"Na na na, Cora, fang mir nicht so an. Ich weiß ganz genau, dass du ihn vergessen hast. Und meine Mum hat immer gesagt: Wir dürfen älter werden. Denk mal drüber nach."
Cora nickte langsam. Da hatte sie wohl recht. "Sorry, ich muss jetzt los. Ich hab noch einen Termin, wir telefonieren uns später, okay?"
"Klar, Süße! Und alles Liebe zum Geburtstag!"
Die Verbindung wurde unterbrochen und Cora klappte ihr Handy zu. "Ja, danke", sagte sie zu sich selbst und seufzte. Dann warf sie das Haar nach hinten und ging hinaus.

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