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Von St. Petersburg nach Kolpino - Der Sommer in Russland ist kurz aber heiß, wie ein Urlaubsflirt. Zwei Wochen im Ausnahmezustand, danach kehrt wieder der Alltag ein. Eine junge Frau steht an der Bushaltestelle nahe der U-Bahn-Station Swjosdnaja und wartet. Die Sonne steht hoch am Himmel und lässt den schattenlosen Moloch unter der ungewohnten Hitze vibrieren. Sie wird heute Nacht nicht untergehen. Die weißen Nächte regieren in der Stadt und verbreiten eine unwirkliche Atmosphäre der festlichen Unbeschwertheit. Für einen kurzen Moment bestimmen sie das Leben der Bewohner St. Petersburgs. Nacht für Nacht bevölkern flanierende Menschenmassen die Straßen, in dem fieberhaften Bestreben, das nachzuholen, was sie in den langen, dunklen Winternächten versäumt zu haben glauben. Spazieren als Leistungssport. Jetzt, da der Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwimmt, ist es auf den Straßen im Oblast St. Petersburg besonders gefährlich. Die allgemeine Schlaflosigkeit, die betrunkenen Autofahrer, ganz zu schweigen von den Marschrutka-Fahrern.
Nicht die besten Bedingungen für eine Fahrt nach Kolpino, doch genau dort muss sie hin. Endlich kommt der Bus. Es ist ein ausrangierter Reisebus aus Europa, der nun hier seinen Dienst als Linienbus versieht. Sie seufzt. Das bedeutet abgewetzte Sitze weich wie Watte, in denen man so tief versinkt, dass man das Gefühl hat, sich nie wieder aus ihrer liebevollen Umarmung lösen zu können. Bei dieser Hitze alles andere als angenehm. Sie lässt sich im hinteren Teil des Busses in einen Sitz sinken und hat sofort das Gefühl, wie eine Fliege in einem Spinnennetz zu kleben. Einige andere Fahrgäste steigen ein. Schließlich fährt der Bus los, halbvoll. Die Fahrt nach Kolpino dauert eine halbe Stunde und führt zum größten Teil über eine schnurgerade Straße. Kurvenlos, beiderseits von verwilderten Wiesen umgeben, ab und zu ein paar Bäume. An den Sommerwochenenden, wenn es alle Einwohner St. Petersburgs gleichzeitig aufs Land zu ihren Datchas zieht, kann die Fahrt aber auch mehrere Stunden dauern.
Kaum hat der Bus die letzten Häuserschluchten hinter sich gelassen, kündigt sich ein Stau an. Der langsame Verkehr wird immer zähflüssiger, fährt nur mehr Schritttempo, bis er zum völligen Erliegen kommt. Neidisch beobachten die Businsassen den Gegenverkehr, der sich in einer ununterbrochenen Kolonne an ihnen vorbeiwälzt. Die Fahrtrichtung des Busses ist einspurig angelegt, dennoch steht der Verkehr bereits in zwei endlos langen Bahnen. Ausweichmöglichkeiten gleich null. Doch der Busfahrer beweist Initiative und manövriert sein tonnenschweres Gefährt rechts an den stehenden Fahrzeugen vorbei auf das Bankett. Schlecht befahrbar beschreibt den Zustand desselben nur ungenügend. Der Bus schwankt gefährlich. Doch nach ein paar Metern wird klar: der Busfahrer weiß was er tut. Und er hat die nötigen starken Nerven, um sich rechts am Verkehr vorbeizumogeln. Nur fürs Warten hat er keine.
Im Inneren herrscht Stille. Die wenigen Fahrgäste starren aus den Fenstern. In regelmäßigen Abständen liegen Kränze mit schwarzen Schleifen am Straßenrand oder lehnen an Bäumen. Andenken an die Todesopfer der Verkehrslawine. Die junge Frau versucht, sie zu ignorieren. Sie fährt diese Strecke oft genug, um zu wissen, wie viele es sind. Insgesamt über 30 Kränze und Blumensträuße legen hier auf einer Strecke von wenigen Kilometern stilles Zeugnis von der Unbekümmertheit und Ungeduld der Verkehrsteilnehmer ab. Außer den Kränzen gibt es nicht viel zu sehen, wenn man hier in der Probka – im Stau – steht . Heute haben die Busfahrgäste Glück. Der Stau wird nicht durch die Massen der St. Petersburger verursacht, die der Großstadt entfliehen wollen. Er beginnt sich aufzulösen, sobald der Bus sich der Ursache nähert. Auf der Gegenfahrbahn liegt ein Ungeheuer aus Metall und Autoscheiben. Als sie den Unfallort passieren, beschleunigt der Busfahrer schon wieder. Die Insassen können nur einen kurzen Blick auf den Unfallort werfen. Eine Marschrutka ist frontal mit einem LKW zusammengestoßen. Das Wrack des kleineren Fahrzeugs steckt halb unter dem vorderen Teil des größere. Einige Passagiere begrüßen die kleine Abwechslung auf der langen, ereignislosen Fahrt. Sie stehen auf und pressen die Nasen an die Fensterscheiben. Zwei Jugendliche zeigen und deuten und lachen über den Anblick der Fahrzeuge, die ineinander verkeilt sind, als wäre das eine dem anderen im Zweikampf unterlegen. Die Unfallopfer sind bereits abgeholt worden. Nur noch anonyme Blutflecken zieren den Asphalt. Das Land strebt unbeirrt der Planerfüllung von 30.000 Verkehrstoten pro Jahr entgegen. Möglicherweise sogar einer Planübererfüllung. Der Verkehr kommt wieder in Schwung. Der Bus setzt seine Fahrt nack Kolpino auf der dafür vorgesehenen Fahrspur fort. Marschrutkas überholen ihn trotz Gegenverkehr auf der Innenspur, die es eigentlich gar nicht gibt. Der Mittelstreifen mit jeweils einem Meter Platz rechts und links ist eine beliebte Strecke für Marschrutkas. PKW fahren rechts an dem Bus vorbei, um schneller zur Abbiegespur in dreihundert Metern zu kommen. Die junge Frau klebt in ihrem Sitz und starrt aus dem Fenster. Sie nimmt nicht wahr, wie die Fahrer, die mit ihren Autos auf der Gegenrichtung im Stau stehen, mit ausdruckslosen Augen zurückstarren. Als der Bus Kolpino erreicht, steht die Sonne imer noch hoch am Himmel.

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