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Back All (2)

Aller Schnee ist geschmolzen. Es wurde wärmer, dann regnete es drein. Spunks Schuhe waren nass und trockneten eine ganze Nacht unter der Heizung. Spunk hatte nach Jahren ihre Therapeutin aufgesucht. Die erste Bestandesaufnahme war ernüchternd und tröstend. Ein Rezept für ein Schlafmittel. Spunk hatte es damals beim Abschluss des Studiums genommen. Jetzt hatte Spunk etwas, das sie in den Schlaf wiegen würde.
Spunk sass, wie jeden Sonntag, im selben Lokal. Der gleiche Kellner. Sport im Fernseher. Musik aus dem Film Flashdance. Zwei junge Frauen, die sich über ihre Beziehungen unterhalten. Spunk hört gerne zu und staunt über die detailgetreue der Erzählungen. Telefongespräche werden präzis miteinander erörtert, die Sms werden gezeigt. Es scheint, dass nichts ausgelassen wird. Freundschaft.
Die Worte der Therapeutin hallten nach: „Frau Spunk, Sie sind sehr stark traumatisiert worden.“ Traumatisiert. Es ist unwirklich. Wenn Spunk sich verliert, wenn sie sich verrennt, wenn sie in eine Sackgasse landet und das Umfeld darauf reagiert, kann Spunk nicht sagen: Weißt du, ich kann nichts dafür, ich bin als Kind sehr stark traumatisiert worden. Nichts ist da und doch ist etwas da. Etwas, das bremst und weglockt. Etwas, das zerstört und niederdrückt. Etwas Schweres und Finsteres. Blei in den Schuhen. Ist es aber möglich, dass diese Erlebnisse, so sehr unser Leben prägen? Ist es möglich, dass man, dass Spunk keine Wahl hat und damit leben muss? Frage: Wie damit umgehen? Spunks Bruder sagte: „Auch mich beschäftigt es immer wieder. Ich weiss nicht warum. Ich versuche es zu verdrängen und schaffe es auch, aber kaum entspanne ich mich, kehrt alles wieder zurück. Ich weiss nicht, warum mich das alles so beschäftigt.“ Spunk denkt jetzt im Lokal: Ist es also doch real? Der Bruder empfindet gleich. Auch seine Gedanken sind damit besetzt.
Was ist mit Thomas Bernhard und seinen Hass auf seine Familie? Bernhard könnte hier sitzen an der Bar und rauchen. Bernhard könnte auch hier sein.
Es bleibt aber unwirklich.
Wie leben die anderen Menschen damit?
Diese vielen Menschen in den Städten.
Beth. Spunk hatte einmal eine Schwester, die Beth hiess. Lange Zeit wusste Spunk nicht, dass sie ihr am nächsten stand. Spunk wusste auch nicht, wie nah sie Beth selbst stand. Die Therapeutin sagte: „Sie wissen, dass Sie dissoziieren. Meiden Sie solche Momente. Gehen sie sofort da raus.“ Sie fragte: „Wenn sie unter Alkohol schreiben, können sie dann zusammenhängend schreiben?“
Beth war Spunk sehr ähnlich. Spunk war Beth sehr ähnlich. Nein, Spunk schreibt nicht zusammenhängend. Nein, Spunks Gedanken springen. Nein, Spunk hat keine Verbindung zu nichts. Keine Anhaltspunkte. Spunk routiert.
Die Hauptrolltreppe in Zürich zum Beispiel. Da sind diese Treppen, die zu den Gleisen 1-18 hinaufführen, die zur Bahnhofshalle führen, dort wo der Arbeitslosenzeitungsverkäufer steht, der Tages -Anzeiger- Verteiler steht. Dort kam einmal Beths Vater Jan Spunk entgegen. Er breitete seine Arme aus und sagte: „Look what I found.“ Das ist die zärtliche ‚Look what I found’ –Treppe.
Sollte Spunk die Treppe meiden? Ist es nicht eine schöne Erinnerung, die man genüsslich immer wieder durchleben könnte? Sie könnte es sein, aber sie ist es nicht. Auf diesen Treppen lebt ein Geist. Dort wartet er auf Spunk.

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