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Vom Gas gehen, die Bremse anziehen, noch vor der Kurve wieder loslassen, den Lenker leicht nach rechts drehen und mit dem Motorrad in die Linkskurve lenken ...
Soviel zu der Theorie.
Südtirol. Wenn man in München wohnt, sieht man zwar mit Blickrichtung Süden bei klarem Wetter die Alpen, doch dies ist nur ein magerer Ersatz, wenn sie mich in diesem Augenblick umgeben, und ich sehe, wie sich ihre Gipfel in Wolkenfetzen bohren und der Sonnenschein in ihren schneebedeckten Hängen gleißt. 'Man fühlt sich so klein' ist wohl einer der verbrauchtesten Sätze aus Reiseberichten, die ihre Leser durch Gebirge führen, aber man fühlt sich tatsächlich so klein. Der Bahnhof in Sterzing besteht nur aus drei Bahnsteigen und die Züge, die hier halten, bezeichnet man in Deutschland als Regionalexpress. Welche Begriffe und Abkürzung ihnen der Trasporto integrato Alto Adige (Verkehrsverbund Südtirol) gibt, müsste ich erst googeln. Gelegentlich fährt auch noch ein Güterzug durch. Es gibt hier ein Bahnhofscafé, in dem sie Espresso servieren, und nun sitze ich hier und denke nach. Wenn man viereinhalb Stunden Heimreise vor sich hat, findet man viel Zeit um nachzudenken.
Zum Beispiel, was mich an diesen Ort verschlagen hat. „Fahr doch einfach mit. Wir machen eine Tour durch die Alpen, über den Brenner und den Jaufenpass und am Sonntag sind wir wieder zurück.“
Soviel zur Theorie. Ich glaube, so weit war ich schon.
Die Bahnhofsdurchsagen in Südtirol sind zweisprachig, eine weibliche Stimme spricht erst auf Italienisch und dann auf Deutsch. Der Zug nach Brenner fährt in fünf Minuten ein. Ein letzter Blick auf die Alpen und die Sonne, die hinter den Felswänden abtaucht. Eine junge Frau öffnet mir die Waggontür, lächelt mich an und sagt etwas auf Italienisch. Alles was ich ihr antworten kann ist „Vielen Dank.“ Ein Grund mehr, sich wie ein Tourist zu fühlen.
Während der Zugfahrt bleibt kein Blick für die Natur. Jede Durchsage kann die Station ankündigen, an dem ich umsteigen muss.
Brenner/Brennero (so die Schilder, die den Bahnhof ausweisen) fehlt die Schönheit von Sterzing. Vielleicht liegt es daran, dass sich der Himmel einen immer dunkleren Blauton annimmt und die Berge weit ausladende Schatten auf die Stadt werfen. Oder es sind die schon geschlossenen Geschäfte, als ich durch die Straßen laufe. Samstagabend, 18:44.
Am Ende finde ich mich ein zweites Mal in einem Bahnhofscafé wieder, vor einer Tasse Espresso und mit anderthalb Stunden Zeit zum nachzudenken, bis hier die Zugverbindung nach Deutschland anhält.
Wo hatte ich noch mal begonnen? … den Lenker leicht nach rechts drehen und mit dem Motorrad in die Linkskurve lenken. Ja, die Theorie. Wer aber überschätzt oder vergisst, die Bremse anzuziehen, dem folgt ein paar Sekundenbruchteile später die Erkenntnis, dass man mit der Leitplanke kollidieren wird. Die Wucht reißt den Lenker aus der Hand. Trotzdem bleibt dem Verstand genug Zeit zu hoffen, dass man sein Motorrad noch in den Griff bekommt. Dann kippt es mit der linken Seite nach unten und man selbst spürt kaum Schmerzen, als Helm und Schutzkleidung über den Asphalt rutschen. Ein paar Meter später endet die Reise. Wenn man dann wieder auf den Beinen steht, bleiben Quetschung am Bein und ein ausgerenkter Arm.
Krankenwagen, Krankenhaus, Einrenken des Gelenks (es ist übrigens nur ein Filmklischee, dass nach einem kurzem Ruck am Arm die volle Bewegungsfähigkeit hergestellt ist!), Heimreise. Mit der Versicherung kann ich mich auch noch morgen herum ärgern.
Das ist auch eine Möglichkeit, die Welt kennenzulernen: Von Bahnhofscafé zu Bahnhofscafé fahren, Espresso aus der Maschine trinken und auf den nächsten Zug warten. Nach und nach sammeln sich weitere Frauen und Männer mit Koffern, Trollis oder Sporttaschen in dem Café, trinken Kaffee und Bier oder wollen ein Sandwich aus dem Angebot in der Glasvitrine haben. Der Zug kommt erst in 45 Minuten. Es bleibt noch Zeit für ein Eis. Das Langneseangebot aus Cornetto oder Magnum haben sie hier nicht, dafür den gleich aussehenden und gleich schmeckenden italienischen Äquivalent. In den letzten paar Minuten scheint die Zeit zu rennen, als ich nicht die Unterführung zum richtigen Gleis finde.
Der EC 84 fährt schon wieder für die Deutsche Bahn und das Personal spricht ohne Dialekt.
„Hatten Sie einen Motorradunfall?“
Die zerschlissene Jacke und die Stiefel haben mich verraten.
„Ja. Aber es hätte viel schlimmer ausgehen können.“
„Das haben Sie Recht.“
Eigentlich war es doch ein guter Tag.

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