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Idea

Es wird Zeit.

Er öffnet die Augen. Er findet sich wieder in einem Szenario, welches ihm unbekannt erscheint. Jedoch fühlt er sich nicht, als wäre er Fehl am Platz.
Ein Raum, hohe Mauern. Aus grauen Steinblöcken. Ein roter Teppich ziert den kalten, harten Boden - aus dem vermutlich selben Material wie die Wände - zumindest ein wenig.
Er lehnt an der Wand, lässt einen Blick durch den Raum schweifen. Lauter Unbekannte, nur Männer, wie es scheint.
Ob er sich bloss einbildet, ein ganzes Stück kleiner zu sein, als alle dieser anwesenden Männer? Er ist sich nicht sicher.
Ob er sich bloss einbildet, alleine zu sein in diesem mit Menschen gefüllten Raum? Auch hier ist er sich nicht sicher. Ein wenig fühlt er sich, als sei er zwar anwesend, jedoch gebannt in die Rolle eines bloßen Zuschauers.

Er blickt sich weiter um, und, in der Mitte des Raumes, endlich ein vertrautes Gesicht. DAS Gesicht. IHR Gesicht. Ungeschminkt, wie immer, einfach natürlich, einfach wunderschön.
Ihre langen, blonden Haare folgen sanft den Bewegungen ihres Kopfes, der sich - ebenfalls wie gewohnt - wenn sie sich unterhält, bewegt als folgt er dem Rhythmus des Gespräches.
Als würde sie antworten, ohne ein einziges Mal ihren Mund zu öffnen, als reichten ihr dazu die Augen. Als reichten ihr Bewegungen.
Ohne sich aufzudrängen. Unmöglich zu übersehen.
Er will sich bemerkbar machen, nach ihr rufen. Doch es ist ihm unmöglich ihr Gehör zu erlangen. Es ist, als würde der Pegel des aus den Gesprächen entstehenden Lärmes immer genau dann steigen, wenn er versucht seinen Mund zu öffnen, um nach ihr zu rufen.
Unmöglich. Sie kann ihn nicht hören.
Jedesmal, wenn er nur die Hoffnung hat, ihre wunderschönen Augen würden den Blick richten in seine Ecke des Raumes, beginnt er mit den Armen zu rudern, zu springen, zu gestikulieren. Er versucht einfach alles.
Alles vergeblich. Jedesmal, bevor ihre Blicke ihn erreichen, werden sie gekreuzt von den Fremden, wie automatisiert, wie eine Mauer, hinter der er für sie nicht mehr zu erkennen ist.
Langsam wird ihm unheimlich, zwar will er den fremden Männern nicht unterstellen, sie wollen ihm seinen Engel vorenthalten, jedoch kann er sich des Eindruckes nicht erwähren, als SOLLE sie ihn nicht bemerken.
„Ob sie mir den Weg verstellen?“, „Ob ich bloß ungünstig stehe?“, fragt er sich noch selbst, während er sie dabei beobachtet, wie sie nach und nach jedem der anwesenden Fremden ein paar ihrer Worte widmet, ein paar Sekunden ihres Zaubers.
Hektisch blickt er sich im Raum um, „bin ich der nächste?“, „bin ich der letzte?“, schießt es ihm durch den Kopf, als er versucht grob die Zahl der Anwesenden und damit die ungefähre Zeit zu schätzen, die es noch brauchen könnte, bis sie ihn endlich bemerkt.
Plötzlich ein Krachen. Das Zuschlagen einer Tür. Sie ist weg. Er hat sie aus den Augen verloren. Hinterher.

Er hetzt aus dem Raum direkt in einen langen Flur, ebenso beschaffen wie der Raum. Ebenso kalt. Sie sieht er bereits am anderen Ende des Flures, beim Öffnen bzw. Schließen der nächsten Tür.
„Halt!“ ruft er ihr hinterher, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie. Die Tür kracht hinter ihr zu. Und obwohl der Gang nicht sonderlich lang ist, auch nicht sonderlich breit, es ist, als würden sich seine Worte verlieren in den Tiefen einer Gebirgsspalte.
Als würde er gar ein Echo hören, das ihm durch sein Zurückhallen verdeutlicht, dass seine Schreie niemals erhört werden können von ihrem Ziel.
Durch den Flur gehetzt. Hinterher. So schnell er kann. Tür auf.

Der gleiche Raum? Baugleich zum ersten. Voll mit Männern, unbekannten Männern. Voller als der Erste.
Ob es ihm bloss vorkommt, als wären die Männer in diesem Raum, den er zunächst glaubt wiederzuerkennen, noch ein Stück grösser, als die im bereits Gesehenen es waren? Er ist sich nicht sicher.
Ob es ihm bloß vorkommt, als würde die Anordnung der Männer in diesem Raum ihm seine wieder gleiche, mehr oder weniger abwesende Position zuweisen, wie er sie bereits kannte? Als müsse er sich hinten anstellen in einer schier unendlichen Schlange? Er ist sich nicht sicher.

Und nimmt die Position willenlos einfach ein.

Da, sein Engel, in der Mitte des Raumes. Ihr Anblick beruhigt, denn er hat das Gefühl, es bedeutet lediglich eine Frage der Zeit, bis sie ihn erreichen wird. Ihr Anblick beruhigt, denn ihre Schönheit lenkt ihn ab von der bedrohlichen Größe der restlichen Anwesenden.
Zumindest für einen Moment. Plötzlich packt einer der Männer sie am Kragen, zerrt sie einfach weiter. Stellt sie vor sich, brüllt ihr mitten ins Gesicht.
„Was tust du!!“, brüllt er aus seiner Ecke, doch eine Gruppe von fünf verwehrt im den Durchgang, hält ihn, als er vorstürmen will.
Zwingen ihn, mit anzusehen, wie eine Ohrfeige die Antwort ist auf die weiterhin ganz ruhigen, rhythmischen Bewegungen ihres Kopfes.
Er muss zusehen, wie der nächste sie einfach zu sich zieht, wie er eine Ohrfeige die Antwort sein lässt, als sie eine Aussage von ihm mit ihrem bezaubernden Lächeln quittiert.
Er muss zusehen, wie sein größter Schatz sich den Misshandlungen einfach hingibt. Als würde es ihr nichts ausmachen, als wäre es einfach Banalität, Normalität. Gewohnheit.
„Warum?“ brüllt er, bereits eine Träne der Verzweiflung, der Wut, wie sie der Wange entlang durch sein Gesicht rinnt, „Warum lässt du dir das antun?“.

Sie hatte ihn nicht gesucht. Nicht eine Sekunde. Lässt sich lieber schlagen.

Wut kommt auf. Wut, die seine Aggression so groß werden lässt, die Kraft derart wachsen lässt, dass er sich in einer einzigen Ruckbewegung losreißen kann vom Griff seiner Bewacher. Er hetzt zu dem letzten, in dessen Gewalt er seinen Engel sah. Doch wo war sie hin?
„Wooooo biiistttt duuuu?“, brüllt er voller Verzwiflung durch den ganzen Raum, „ich brauche dich!“.
Ein Krachen. Das Zuschlagen einer Tür. Sie ist weg. Er hat sie aus den Augen verloren.
Hinterher.

Kurz vor der Tür packt es ihn plötzlich am Kragen, einer der Männer, einer der Riesen. Er versucht tatsächlich ihn aufzuhalten.
Nichts da. Die Wut, die Aggression, die Verzweiflung, sie sind inzwischen so groß, wie von Sinnen beginnt er einfach dem scheinbar Übermächtigen ins Gesicht zu schlagen.
Immer wieder. Immer und immer wieder. Bis das Blut ihm ins eigene Gesicht spritzt, bis die scheinbar so stabilen Beine seines Gegners einfach ihren Dienst nicht mehr tun.
„Wo ist sie?“ schiesst es durch seinen Kopf. Er hat sie für einen Moment einfach vergessen in diesem Anfall von Gewalt, blinder Wut. Rache.

Hinterher, hinaus zur Tür. Der gleiche Flur. Die gleiche, scheinbar nicht zu überwindende Entfernung, wieder schliesst sie die Tür am anderen Ende hinter sich zu. Als wäre sie uneinholbar.
Als würde sie vor ihm weglaufen. Obwohl er sich sicher ist, sie hat ihn - bis jetzt - nocht gar nicht bemerkt.
Er hetzt auch durch diesen Flur. Es ist ihm egal, wie viele der Riesen sich hinter der Tür befinden werden. Er macht sich bereit, alles zu riskieren, aber ist sich sicher, er wird sie befreien, wird sie zu sich holen können.
Er öffnet die Tür.
Und was er zu sehen bekommt, es ist schlimmer, als er es je hätte befürchten können.

Lediglich zwei Menschen im Raum. Sie. Auf dem Schoss eines Typen, den er nicht kannte, so finster anmutend, eine Anziehung auf sie auswirkend, die ihm das Gefühl vermittelt, sie wäre gebunden an seinen Schoss.
Sie bemerkt ihn zuerst gar nicht, streichelt das Haar des Unbekannten, zärtlich, wie hypnotisiert.
Blickt ihm dabei mitten in die Augen. Würdigt ihn dabei keines Blickes.
Hilflos muss er ansehen, wie die Hand ihres neuen Angebeteten immer wieder auf und ab fährt auf ihren Schenkeln, kurz vor ihrem Ziel wendend. Immer und immer wieder.
Plötzlich dreht sich ihr Blick. „Ich bin es“ will er sagen, doch er blickt in die Kälte. In Herabwürdigung. Als würde sie versuchen ihn hinauszuwünschen, mit diesem kalten, für sie völlig fremden Blick.
Er will heulen, doch ist wie erstarrt.
Sie wendet sich wieder ab, durch die Hand des offensichtlichen Liebhabers in ihrem Genick mit leidenschaftlicher Bestimmheit geführt.
Der sich schließlich auch noch kurz dreht, um einen seiner kalten, finsteren Blicke preiszugeben.
Nur um eine Sekunde seine frostigen, von dunklen Ringen untermalten Augen preiszugeben.
Dreht sich wieder zu ihr, bis sie sich schließlich Küssen. Leidenschafltich, scheinbar zu allem bereit, als hätten sie ihn einfach vergessen, als wäre es ihnen egal, dass er anwesend ist.
Oder als solle er gar sehen, was vor ihm gerade geschieht, als solle er endlich einsehen: Zu spät. Er ist nicht gut genug.
Er will heulen, doch ist wie erstarrt.
Bis der Finstere ihm zu verstehen gibt, dass er ihn keinesfalls vergessen hat. Er beginnt wieder ihre Schenkel an der Innenseite zu streicheln, zwei, drei Mal auf und ab, um ihr schließlich zwischen die Beine zu greifen. Sie dort zu streicheln.
Als wolle er ihm, ohne ihn überhaupt noch wahrzunehmen, ein weiteres Mal sagen: „Zu spät. Du bist nicht gut genug. Vergiss es. Niemals.“

Dieser Typ. Seine Schönheit. Es fährt ihm ein Schauer durch den Leib. Ein Gefühl, gleichend der Endgültigkeit eines Lebewohls, als wäre ihre unbefleckte Schönheit unwiederbringlich verloren. Sein größter Traum einfach geplatzt. Vor seinen Augen.
Und er bricht doch zusammen. Heulend. Verzweifelt. Am Ende.
Plötzlich hört er sie stöhnen. Ein Stöhnen, dass ihm verdeutlicht, wie gut es ihr geht. Wie sie sich dem Fremden hingibt, der scheinbar besser ist für sie. Der in ihm das Gefühl erweckt, jeder sei besser, als er es selber je sein könnte.
„Ich muss hier raus!“, schreit er durch den ganzen Raum, rappelt sich auf und rennt zur zweiten Tür des Raumes, als sei von ihrem rechtzeitigen passieren sein Leben abhängig.
Ohne das die Liebenden überhaupt noch Notiz ergreifen, nicht von ihm, schon gar nicht von seiner Flucht.

Er betritt offenes Gelände. Rennt. Er rennt einfach, als könne er sich von seinen grausamen Gedanken verabschieden, entfernt er sich nur weit genug, schnell genug vom Ort des Geschehenen.
Plötzlich Schreie. Sie fleht. Sie winselt. Kreischt, die erbarmungswürdigkeit ihrer Rufe bricht ihm das Herz.
Alleine die Vorstellung, was gerade in den zurückgelassenen vier Wänden ablaufen könnte, sie ist so real und grausam, dass er sie nicht ertragen kann.
Er schließt die Augen, während des rennens, als könne er die Bilder einfach vergessen. Verdrängen, was er nicht mal leibhaftig mit angesehen hatte.
Und rennt einfach weiter. Gibt sie verloren, gab sie bereits verloren als die Hand begann, sie zwischen ihren Beinen zu streicheln.
Und hört sie weiter kreischen. Dreht sich um. Zu sehen, wie weit er noch rennen müsse, wie weit er bereits gerannt ist, um nicht mehr mit anhören zu müssen.
Dreht sich um.
Und stürzt. Ins Bodenlose. Den tiefsten Abgrund.
Tiefer als die Erhebung des Berges zum Tal, er stürzt vom Nicht-Wirklichen in die Realtät, unaufhaltsam.
So derart schnell, als sei er mit der Last der gesehenen Bilder zusätzlich beschwert.

Vom Rande des Traumes direkt in die Vertrautheit seines Schlafzimmers.
Rappelt sich auf. In Augenblicken. Mit dem Rücken an die Wand. Er braucht den Halt.
Er schwitzt am ganzen Körper.
Sein Herz schlägt mit der unüberhörbaren Aufdringlichkeit eines Presslufthammers, genauso laut, ebenso schnell.
„Es wird Zeit“ , schießt ihm die im Traum gewonnene Gewissheit durch den Kopf, „oder es ist zu spät. Musst es ihr sagen. Oder du wirst sie verlieren.“

Er braucht noch ein paar Sekunden, bevor er sich noch einmal traut, sich wagt, die Vertrautheit zu suchen, die es braucht, um Kraft tanken zu können im Schlaf.
Für den Tag, an dem er sich nun endgültig vorgenommen hat, einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

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