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Novemberbriefe

Der Mann trägt Briefe zur Post. Es ist November. Durchs Einkaufszentrum weht ein kalter, peitschender Wind. Mit klammen, schmerzenden Fingern hält der Mann die Briefe krampfhaft fest. Er stemmt sich verzweifelt gegen den schneidenden Wind. Es sind Briefe für Gefangene. An den grauen Betonquadern des Einkaufszentrums vorbei erreicht er das Postgebäude mit den vergitterten Fenstern. Er zieht seine Nummer. Die Finger klammern sich um die Umschläge. Darin sind Briefe gegen die Generäle, Briefe für die Gefangenen. Seine Nummer erscheint rot leuchtend auf dem Display. Er begibt sich zu Schalter C.

„Dreimal A – Post nach Übersee“, sagt er.

Die Frau hinterm Schalter unterbricht kurz ihr routiniertes Stempeln und schaut auf die Adresse: „Dort ist es jetzt schön warm“, sagt sie.

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Der Mann stutzt einen Augenblick. Darüber hat er sich nie Gedanken gemacht, nur über die Zustände, in denen die Gefangenen leben müssen. Für ihn ist der Name des Landes Inbegriff von Folter, verdreckten Zellen und verzweifelten Seelen, die sich an einen kleinen Hoffnungsschimmer klammern, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Hoffnung in Form seiner Briefe, Hoffnung in Form von Menschenrechtsaktivisten, die die Gefangenen noch nicht aufgegeben haben, die nicht die Nachrichten sehen und danach zum Spielfilm übergehen, ohne noch einen Gedanken an die Schrecken zu verschwenden, die ihnen gerade serviert wurden. Menschen, deren Kurzzeitgedächtnis länger andauert als die durchschnittliche Halbwertszeit von Nachrichten.
Das alles geht dem Mann nun durch den Kopf - und er wundert sich, dass er nie daran gedacht hat, dass es außerhalb der Gefängnisse in diesem Land Menschen gibt, die ganz normal leben, die lachen, die unbeschwert sind wie seine eigenen Landsleute. Menschen, die an der Gefängnismauer entlang gehen und drei Schritte später schon nicht mehr daran denken, dass hier Menschen eingesperrt sind.
Aber das alles sagt er nicht, er nickt nur und murmelt etwas Zustimmendes, bevor er seine Briefmarken zahlt und die Briefe auf ihren weiten Weg schickt.

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