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Waschlappen und der Umgang damit

"Warten. Immer warten."

Lutz nimmt sich einen der Korbstühle und setzt sich. Nach einen kurzen Blick auf die schlafende Oma Hall schließt er ebenfalls die Augen.

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Die Sonne scheint auf sein Gesicht und trotz der geschlossenen Augen, dringt etwas von der Helligkeit zu ihm durch. Es ist wie, wenn man zu lange in die Sonne geschaut hat, die Augen schließt und plötzlich einen bunten Lichtpunkt vor sich sieht. Erst ist er weiß-gelblich, doch mit viel Fantasie kann man seine Farbe, Form und Größe ändern. Für eine Weile spielt Lutz mit dem Gedankenpunkt vor seinem inneren Auge, als die Stimem von Oma Hall ihn aus seinen Gedanken reißt: " Wie alt sind sie, Lutz?"
Die alte Dame hat sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie ihn dutzen darf, benutzt deshalb zwar seinen Vornamen, aber sagt immer noch Sie.
Er schlägt die Augen auf und fragt verdattert: " Wie bitte?"
" Ich fragte, wie alt Sie sind?"

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"Einundzwanzig", antwortete Lutz und verkniff sich die Gegenfrage. "Macht man nicht. Frauen fragt man nicht nach ihrem Alter", war ihm von seiner Mutter irgendwann einmal erklärt worden.
"Mmmh. Als ich so alt war, war Krieg. Der Zweite. Den Ersten habe ich nicht erlebt."
Oma Hall schloss die Augen; schien sich zu erinnern.
"Und, wo waren Sie da? Ich meine, was haben Sie da gemacht?" fragte Lutz, nur mäßig interessiert.
"Wir lebten hier in Münster. Ich bin hier geboren. Genau wie meine drei Geschwister. Sind alle schon tot. Was ich damals gemacht habe? Na gewartet: Auf Lebensmittel, Kohle und was wir so zum Überleben brauchten. Immer die Bezugsscheine in den Fingern; und immer am Ende der Warteschlange."

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"Einmal, das weiß ich noch, da gab's Kuchen. Das war wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag für uns. In aller Früh standen wir schon in einer langen Schlage, es wussten natürlich alle Bescheid. Wir warteten und warteten, den ganzen Tag. Der Gedanke an den Kuchen hielt uns auf den Beinen. Als ich schließlich meinen Kuchen in Händen hielt, eilte ich sofort nach Hause. Das war ein Festmahl für die ganze Familie, der beste Kuchen, den ich je gegessen habe. Mit Schokolade, und Kirschen waren drin. Das werde ich nie vergessen. Aber meine Freundin hatte Pech. Als sie nach stundenlangem Warten endlich zu Hause ihren Kuchen anschnitt, fand sie eine Maus darin."

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"Oma Hall, bei aller Wertschätzung gegenüber Ihrer Generation, aber veräppeln kann ich mich auch selbst", nörgelte Lutz.
"Du hast es gemerkt", stellte Oma Hall befriedigt fest.
Da Lutz die Bemerkung als Lob auffasste, verbesserte sich seine Laune erheblich.
"Fertigkuchen im Zweiten Weltkrieg, das wäre bei mir noch durchgegangen, obwohl ich mir sicher bin, dass es das zu der Zeit noch nicht gab."
Oma Hall lächelte, dachte für einen Moment an die Freitage in ihrer Kindheit, wenn die Mutter zusammen mit uns Mädchen Brot und Kuchen backte. Wie ungeduldig wir waren, es kaum erwarten konnten, bis die Mutter die schwere Ofentür aus Gusseisen endlich wieder öffnete.
"Aber das mit der Maus war zuviel. Die Maus im Kuchen ist eine zu häufig erzählte Geschichte, als dass man daran noch glauben kann", beendete Lutz seine Ausführung.
Jungenhaft grinste er Oma Hall an, die bereits wieder die Augen geschlossen hielt. Das entspannte Lächeln in dem faltigen Gesicht widersprach ihren Worten: "Das Warten war für uns Kinder beinahe eine Qual."
Zu gerne hätte Lutz jetzt gewusst, in welchem Lebensabschnitt Oma Hall sich gerade herumtrieb.

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"Und Lutz, alles im Griff?" Frau Schwalbe, ihres Zeichens Oberschwester der Station, faltete verspielt den Waschlappen, den sie soeben von Oma Halls Bett geklaubt hatte.
"Alles im Griff", antwortete Lutz selbstbewusst. Die Oberschwester und er wussten, dass er als aussterbende Rasse Zivildienstleistender kaum noch kritisierbar war.
"Bis auf den Waschlappen", konnte sich Schwester Schwalbe nun doch nicht verkneifen zu meckern.
"Brauch ich nicht mehr", behauptete Lutz lächelnd. "Bin durch damit."
"Mit der gesamten Station?" Ungläubig sah sie ihn an.
"Jau. Ist bei den Alten Menschen doch eh nur ein Ritual. Bei denen geht’s doch überhaupt nicht mehr um die Hygiene."
"Aha", sagte Oberschwester Schwalbe und dachte lange über Lutz seine Behauptung nach.

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Zwei Dinge würden sich in ihrer Abteilung ändern. Das war das Fazit ihrer Überlegungen, die sie nach Lutz seiner Bemerkung betreffs der Hygienemaßnahmen beschlossen hatte.
Zum einen würde sie Lutz neue Aufgaben zuteilen, weit fort von den Patienten; zum anderen wollte sie der Verwaltung nahe legen, nur noch in Ausnahmefällen über Gebühr gebrechliche Menschen aufzunehmen.
Es wird endlich Zeit, dachte sie kämpferisch, unsere Krankenhäuser von den pädiatrischen Aufgaben zu befreien.
Es wird endlich Zeit, dem Alter die Würde wiederzugeben, die das Alter verdient. Denn der Junge hat Recht: Unser aller Leben besteht bald nur noch aus Ritualen. Wir degenerieren allenthalben zu hirn- und gefühlslosen Idioten, wenn wir so weiter machen.
"Ihr warten hat ein Ende", platzte Lutz in Oberschwester Schwalbes Plandenken, sodass diese erschrocken herumfuhr.
Und was sie sah, rührte sie, als Lutz Oma Hall auf die Stirn küsste und dann die toten Augen verschloss.
Und was sie sah, holte sie in die Realität zurück. Natürlich werde ich nicht zur Verwaltung hinunter gehen und Lutz soll mal ruhig so weitermachen wie bisher. Er wird sowieso unser Letzter Zivildienstleistender sein.
"Danke Lutz. Ich hole einen Arzt."

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Ein kleiner Denkanstoß über den Umgang mit unseren Alten, während sie auf ihren Tod warten.

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