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Unsanft rüttelte eine Hand an Yonis Schulter.
"Aufwachen, Mädchen, der Hahn hat schon gekräht!" Ihr Vater hielt nicht viel davon, junge Mädchen anders zu behandeln als ihre Brüder, und Yoni musste wie alle im Ort früh aufstehen, um ihre Arbeit zu verrichten. Sie gähnte, streckte sich und knurrte leise. Das war ihre Art, ihren Unmut zu zeigen, und wie immer schüttelte Thuro seufzend den Kopf und trollte sich grummelnd. Yoni setzte vorsichtig einen Fuß auf den Boden und zog ihn blitzschnell zurück. Es war über Nacht empfindlich kalt draußen geworden, und der Boden in ihrem Zimmer fühlte sich an wie ein Eisblock. Yoni zog ihre Kleidung zu sich unter die Decke und zog sich langsam an, immer darauf bedacht, dass sie nicht zu viel kalte Luft in ihr warmes Nest ließ.

Wenige Minuten später spritzte sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht und ging in die warme Küche. Im Herd brannte ein Feuer, darüber stand ein schwerer Topf. Gemeinsam verbreiteten sie Wärme und köstliche Düfte, und Yoni war sofort versöhnter mit der frühen Stunde. Sie holte sich ihre Schüssel vom Regal, schöpfte etwas von der kräftigen Suppe hinein und setzte sich zu den anderen an den Tisch. Schweigend löffelte die Familie die würzige Mischung aus Wurzeln, Kräutern und Gemüse. In Yonis Bauch breitete sich Wärme aus, und die Schärfe der Feuerschoten trug dazu bei, dass ihre Lebensgeister erwachten.
Nach dem Essen gingen sie hinaus aufs Feld zur Arbeit. Wie immer blickte Yoni sehnsuchtsvoll zu den entfernten Bergen hinüber, doch heute war dort nichts als Nebel zu sehen. Sie hielt den Atem an, dann rief sie den anderen zu: "Seht doch, der Nebel ist zu uns gekommen!" Alle sahen auf, manche erschrocken, manche ängstlich, nur Yoni war voller Neugier. Sie hatte von den Nebeln gehört, aber noch nie einen gesehen. Den Morgennebel, der über den Wiesen und Wäldern hing, kannte sie, aber dieser Nebel war anders, und jeder, der ihn sah, wusste es.
"Wer weiß, was er diesmal mit sich bringt", murmelte ihr Vater und warf seiner Frau einen scharfen Blick zu. Diese erwiderte seinen Blick standhaft, doch ihre Wangen waren gerötet. Yoni entging der Blickwechsel nicht, doch konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Das letzte Mal war der Nebel vor ihrer Geburt so nah ans Dorf gekommen, und sie kannte ihn nur aus den Erzählungen.
"Vater, was kam letztes Mal mit dem Nebel? Erzähl, bitte!"
Thuro schüttelte energisch den Kopf. "Nein, das ist eine Geschichte, die besser unerzählt bleibt." Auch ihre Mutter und ihre älteren Brüder weigerten sich, etwas darüber preiszugeben, nur, dass die Berge zuvor nicht gewesen waren, erfuhr sie. Es war für Yoni unvorstellbar, dass der Blick von ihrem Hof einst nicht an der Bergwand endete, aber sie erhielt keine weiteren Antworten mehr, und so machte sie sich schweigend wieder an die Arbeit, nicht ohne hin und wieder die wabernde Wand in der Ferne anzusehen, die unverrückbar und undurchdringlich zu sein schien.
Gegen Mittag sah sie in der Ferne eine Gestalt, die langsam näher kam. Sie hielt den Mund und wartete ab, hatte ihre Freude an ihrem kleinen Geheimnis. Erst, als es schon dämmerte, war der Fremde nah genug am Dorf, dass auch die anderen ihn sahen.
"Geh ins Haus, Yoni", sagte ihr Vater in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. zähneknirschend fügte sie sich, blieb aber am Eingang stehen und spähte immer wieder durch den schweren Vorhang. Instinktiv spürte sie, dass der Fremde nicht ganz so fremd in diesem Dorf war, und sie wollte herausfinden, woher er kam und was er nun hier wollte. Ebenso sicher wusste sie, dass ihre Eltern es ihr niemals erzählen würden, also musste sie es auf eigene Faust herausfinden. Sie begann, Pläne zu schmieden.

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Yoni sah, wie Vater und der Fremde miteinander diskutierten. Sie benutzten die Hände, und Vaters Blicke fielen immer wieder auf Mutter. Seine Gesten waren so wenig freundlich wie sein Gesichtsausdruck, und Yoni spürte einen Kloß im Hals.
"Komm weg dort", ihren ältesten Bruder hinter sich sagen. Sie schrak zusammen und ließ den Vorhang fallen.
"Was ist dort los, Maron?" Yonis Stimme klang ängstlicher, als sie wollte.
"Nichts, was ich Dir erzählen sollte. Und nun komm, setz Teewasser auf und bereite das Abendessen, sie werden nicht ewig dort stehen und reden."
"Reden nenne ich das nicht gerade", murmelte Yoni unwirsch, fügte sich aber und machte sich an die Arbeit in der Küche. Nach und nach wurde sie ruhiger, die bekannten Handgriffe gaben ihr Sicherheit. Erst, als die Dämmerung schon fortgeschritten war, kamen ihre anderen Brüder, ihre Eltern und der Fremde ins Haus. Sie sah ihn an und spürte eine Macht, die sie noch nie an einem Menschen wahrgenommen hatte. Es war, als füllte seine Gegenwart den ganzen Raum, als erleuchte sie auch noch den letzten Winkel. Yoni fühlte sich unerklärlich geborgen.
"Zaleb, das ist unsere Tochter Yoni." Yoni stammelte eine Begrüßung, die Zaleb zum Lachen brachte, aber es war ein warmes, freundliches Lachen.
"Es freut mich, dich endlich kennenzulernen, Yoni", erwiderte er und verwirrte sie nur noch mehr.
"Lassen wir die Fragen eine Weile ruhen und essen erst einmal", sagte ihr Vater mit scharfem Blick, und Yoni biss sich schnell auf die Zunge.
Sie aßen schweigend, und Yoni schmeckte kaum etwas, so sehr war sie damit beschäftigt, ihre Gedanken und igre Zunge ich Schach zu halten. Auch nach dem Essen bekam sie keine Gelegenheit, Fragen zu stellen, denn sie half ihrer Mutter in der Küche. spülte das Geschirr und wurde dann von ihrem Vater frühzeitig in ihre Schlafkammer geschickt.
Wütend und mit einem Kloß im Hals saß sie dort, zu wach, um schlafen zu gehen, zu gehorsam, um den engen Raum zu verlassen.
Plötzlich spürte sie etwas Weiches an ihren Beinen entlangstreifen.
"Ach Tondis", schluchzte sie und nahm das warme, weiche Tierchen auf den Schoß. Sofort kuschelte er sich an sie und gab beruhigende Laute von sich. Tondis war immer da, wenn sie ihn brauchte, und sie erzählte ihm leise schluchzend alles, was heute passiert war.
"Und nun darf ich nicht mal bei ihnen sitzen, dabei will ich wissen, wer er ist, woher er kommt, was er hier macht und vor allem, was es mit Vaters seltsamen Blicken auf sich hat." Tondis sah sie aus seinen großen, bernsteinfarbenen Augen an, als wolle er ihr zustimmen. Sie drückte ihn an sich und legte sich dann hin. Mit Tondis im Arm konnte sie endlich einschlafen.

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