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Das Wasser prallt von meinem Bauch ab, jeder Tropfen zersplittert in zehn oder zwölf kleinere, die wie Scherben glitzern. Das Neonlicht brennt stumpfe Narben hinter meinen geschlossenen Lidern. Irgendwann wird das so unangenehm, dass ich das Wasser abstelle, den Kopf senke und die Augen öffne, um die Flecken zu vertreiben. Seltsamerweise habe ich Angst davor, dass sie – wenn ich das auch nur einmal nicht tue – nie wieder verschwinden.
Was ich sehe, als mein Blick endlich wieder scharf ist, erscheint mir nur fremd. Dieser Körper, der flache Bauch, die sanft gewölbten Brüste, die eleganten Beine – das alles kann nicht zu mir gehören. Es kann kein Teil von mir sein, denn ich bin nicht perfekt – nicht einmal annähernd. So ein Körper würde eher zu Marcia passen, Marcia mit ihren Heldengeschichten, ihrer Romantik, ihrem Glück. Wie soll ich da mithalten?
Ich lege meine Fäuste vor meine Augen und drücke zu. Ich lasse sie dabei offen. Das seltsame Gefühl, wie meine Fäuste und Wimpern sich gegenseitig abstoßen wollen, aber gleichzeitig auch wie zwei Kletten aneinanderhängen, liebe ich. Es erinnert mich an die Art, wie Daniel mir manchmal einen dieser seltsamen Blicke zuwirft, bei denen ich eine Gänsehaut bekomme. Ich weiß nicht, was ich von diesen Blicken halten soll. Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin! Ein Mensch, so weit bin ich schon gekommen. Ein Mädchen, vielleicht auch eine Frau. Das kommt darauf an, wann man eine Frau wird. Wenn es mit der Liebe zusammenhängt, bin ich noch ein kleines, unerfahrenes Mädchen. Wenn es aber nach dem Denken, der Reife, der Erfahrung geht, bin ich schon vor Jahren zur Frau geworden.
Ich glaube, ich sollte mich mit dem Duschen beeilen, damit Mama sich nicht wieder beschwert. Ich drehe also wieder am Hahn.
Das Wasser, das jetzt an meinem Blick vorbei auf den Boden springt, hat eine seltsame Regelmäßigkeit. Ein Tropfen trifft immer genau dort auf, wo schon der vorherige gelandet ist. Ich weiß nicht, warum, aber das Bedürfnis, dieses gleichmäßige Gefüge zu durchbrechen, wird übermächtig. Mit aller Kraft schlage ich gegen den Duschkopf. Für einige Sekunden ist der Fluss unterbrochen. Besser als nichts.

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Mein Name ist Emilia, Emilia Grey. Das sagen zumindest alle zu mir. Grey heiße ich, weil meine Eltern, als sie geheiratet haben, Papas Namen behielten. Er war schon seit fünf Generationen in der Familie, und er ist sehr stolz darauf. Jetzt sind meine Eltern seit genau siebzehn Wochen offiziell geschieden. Papa ist seit genau siebzehn Wochen verschwunden, er hat alles, was irgendwie mit ihm zu tun hatte, mitgenommen. Das einzige, was mir noch geblieben ist, ist der Name.
Emilia wurde ich getauft, weil meine Großmutter mütterlicherseits so hieß. Sie ist auf den Tag genau fünfzig Jahre, bevor ich zur Welt gekommen bin, von einem Zug überfahren worden. Alle glauben, dass es Selbstmord war, außer Mama. Sie will einfach nicht wahr haben, dass sie auch noch daran schuld ist. Davon später mehr. Hier geht es um mich.
Ich bin siebzehn Menschenjahre alt, das sind so viel wie 34 Katzen- und xxx Elefantenjahre. Ich habe den Durchschnitt ausgerechnet, um herauszufinden, wie alt ich nun in echten Jahren bin, aber die Zahl hatte endlos viele Kommastellen. Das kann eigentlich nicht sein, denn ich habe es an meinem Geburtstag versucht. Vielleicht muss dafür, für das wahre, innere Alter, auch erst jemand eine neue Formel finden. Und wie alt fühle ich mich? Manchmal so, als wäre ich noch ganz klein, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Eigentlich hasse ich das Gefühl, also versuche ich es zu unterdrücken, obwohl das nicht wirklich funktioniert. Es gibt auch Zeiten, in denen fühle ich mich alt und schwach. Ich habe das Gefühl, die Last eines ganzen Lebens auf meinen Schultern zu tragen; dabei habe ich noch nicht einmal angefangen zu leben. Das hat mir ein Philosoph klar gemacht, ich habe seinen Namen vergessen. Er hat gesagt, wer nie die einzig wahre Liebe gespürt hat, der lebt nicht. Ich war noch nie verliebt, wisst ihr? Bei Daniel spüre ich ein seltsames Ziehen im Bauch, und mein Blick bleibt manchmal an ihm kleben, ich muss mich zwingen, ihn abzuwenden. Außerdem muss ich immer lächeln, wenn ich an ihn denke, und sein Name erinnert mich an den Geschmack von Honig… Marcia sagt, dass ich in ihn verliebt bin. Aber Marcia sagt auch vieles anderes. Davon aber später mehr. Hier geht es um mich.

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