Rise and Fall

"Schon komisch", denkt sich Flocki und lässt einen Blick durch den Raum schweifen, dabei wie immer, wenn er nachdenklich ist, mit dem Zeigefinger der rechten Hand durch seinen Schnauzbart zwirbelnd, den er über die Jahre derart lieb gewonnen hat, dass er ihn jeden Morgen an den Seiten sogar mit einem Nasenhaarschneider trimmt.

"In der Ruhe könnte man tatsächlich meinen, hier hätte sich nicht viel verändert."

Und tatsächlich: Selbst die Playboy-Poster, die die inzwischen um die 30 Jahre alten Gründungsmitglieder der Band bereits während ihrer Pubertät mit offenen Mündern bestaunten, sie hingen noch an Ort und Stelle.
Ausgebleicht zwar, aber immerhin waren sie das erste, dass den dunklen Kellerraum zierte, noch bevor man eine taugliche Isolierung im innern des Raumes anbrachte, um wirklich in Konzertlautstärke proben zu können.

Und noch wie früher war es bis zum heutigen Tag Gang und Gebe, denjenigen mit der Säuberung des Raumes von Bierkästen und Flaschen zu betrauen, der als erster kurz davor war, im Müll zu ersticken, wenn er sich mal wieder stapelte bis fast unter die Decke.

An der Decke, ebenfalls noch wie früher, die gleiche, schmucklose Glühbirne, bis heute ohne jeglichen Schutz einer Lampe, die einen leicht hellen Schimmer in das fensterlose Kellerloch wirft.

Die einzige wirklich auffällige optische Änderung, die sich im Laufe der Jahre ergeben hat, ist ein mehr an Kabeln und Verstärkern, durch den personellen Zuwachs den die Band im Laufe der Jahre erfahren hatte.

Diese allerdings liegen - wie früher - nach wie vor ohne jegliche Struktur einfach nur dort entlang, wo Platz ist.

"Mann, wenn ich an damals zurück denke", fährt es Flocki durch den Kopf und ein leichtes Grinsen beginnt sein Gesicht zu zieren, als er die früher Zeiten der Band revue passieren lässt, in denen er beispielsweise gemeinsam mit Benno, Manni und Rick den Raum zur besseren Isolierung mit leeren Eierkartons ausklebte.

Mit was für Erwartungen und Zielsetzungen waren die vier Gründungsmitglieder der Band doch damals gestartet:

Man wollte aufrütteln, vor sozialem, zwischenmenschlichen Verfall warnen, die Politik aufmischen, einfach die Musik nutzen um mehr auszulösen, als bloße Tanzbewegungen.

Und bis zu einem gewissen Zeitpunkt schien sich der in ideellem begründete Wille der Band sogar in Erfolg ummünzen zu lassen, nur allzu gerne erinnert sich Flocki zurück, wie er nach einem Konzert mit seinem nackten, beharrten Oberkörper auf der Stage posierend eine politische Brandrede in der Lage war zu halten.

Klar, es gab zwar hier und da das ein oder andere Problemchen, war Manni doch nur allzu oft neidisch auf die dutzenden Frauen, die Rick nach den Konzerten abschleppte, war Benno doch nur allzu oft beleidigt, weil Manni den daraus resultierenden Frust am langhaarigen Nesthäckchen auszulassen pflegte.
Aber an einem gab es nie einen Zweifel: Der nächste Auftritt, während dem man wieder alles gemeinsam bereit war zu geben, man hatte ihn fest im Blick.
Und man war bereit zur Not auch sieben Tage der Woche dafür zu opfern, dass dieser Auftritt auch mit Sicherheit einen Erfolg bedeutete.
Und die stellten sich dann auch bald in einer solchen Regelmäßigkeit ein, dass John Kalkmann, dem Besitzer des Übungsraumes, sogar bereit war einen Vorspieltermin bei einer erfolgreichen wie Intermusic´s bereit war zu organisieren.

"Ja, ihr seid gut, aber glaubt ihr wirklich, Talent alleine würde genügen, um sich heutzutage auf breiter Ebene durchzusetzen", so waren die Worte des Produzenten, die Flocki bis heute noch auf den Buchstaben genau erinnert, nach dem Vorspielen.
Klar, man hätte Rick als optisches Aushängeschild, aber für genügend Sex wäre es unabdingbar, ein weibliches Bandmitglied zu installieren.

Auch das tat allerdings dem Erfolg der Band zunächst keinen Abbruch, bis es natürlich kam, wie es kommen musste: Emilia verliebte sich in Weiberheld Sänger Rick, da er bekannt war dafür, nichts anbrennen zu lassen, landeten die zwei natürlich auch direkt in der Kiste.

Was allerdings für Rick nichts weiter als eine von vielen Nummern, es war für Emilia mit starken Gefühlen behaftet, so landeten sie zwar wieder und wieder in der Kiste, doch die erhoffte Beziehung blieb für Emilia aus, im Gegenteil: Demütigen lassen musste sie sich, Beschimpfungen ertragen und Rick dabei zusehen, wie er vor ihrer Nase weiter eine Frau nach der anderen verführte.

Und der Weiberheld war in der Lage, immer und immer wieder einen draufzusetzen. Aber da Liebe ja bekanntlich leider blind macht, ließ jede noch so kleine leidenschaftlich-sexuelle Geste Rick´s gegenüber Emilia sofort wieder neue Hoffungen aufkeimen.

Sie schlief wieder und wieder und wieder mit ihm, bis selber die männlichen Bandkollegen oftmals nur noch unverständnisvoll mit dem Kopf schütteln ließ, vor allem dem so schon leicht eifersüchtigen Manni wurde Rick´s Verhalten immer und immer mehr zum unerträglichen Ärgernis. Er nutzte so natürlich die Chance, die sich ihm in seinen Augen bot, als er eines Tages den Probekeller betritt und Emilia einfach nur weinend in einer Ecke des Raumes vorfand und bot seine Schulter zum Ausweinen bereitwillig an. Er hatte im Grunde genommen schon fast keine andere Wahl, als dies zu tun, denn der so stark und souverän wirkende Manni war in Frauendingen nicht gerade das, was man als einen Cassanova bezeichnen konnte.

Die zwei trafen sich im Laufe der Zeit also immer öfter zum Reden, alleine so wurde die Luft zwischen den Bandmitgliedern schon langsam immer dünner, denn Manni befürchtete nichts mehr als ein Szenario, in dem er als derjenige da stehen hätte müssen, der für Emilia zwar fast alles bereit war zu tun, nicht aber gut genug war für eine Beziehung. So begann man sich langsam zu meiden, während das Gitarristen-Kücken der Band, Benni, eine immer größere Affinität für die Kifferei entwickelte, stundlang saß er oft zugedröhnt im Proberaum, meist mit Flocki, dessen unaufhörlicher Redeschwall ihm gerade noch bis zum einen Ohr rein und zum Anderen wieder hinausging.

Flocki hörte ich schon immer gerne selber reden, scheinbar spielten die Worte eine eher untergeordnete Rolle.
Der Probe -und Auftrittsbetrieb nahm so mehr und mehr ab, man saß stundlang nur noch redend bzw. philosophierend im Proberaum, dem bekifften Teil der Veranstaltung wurde das zweifelhaft Recht eingeräumt, absolut regungslos und ohne das Recht auf Widerworte zuzuhören.
Wäre damals nicht bereits Jack mehrmals in der Lage gewesen, die Bandmitlieder und einige andere warnen bzw. rauszupauken, wenn um Gras oder ähnliches ging, dann wäre die Band wohl bereits damals aufgelöst worden, VITAMIN B kann einem eben heutzutage doch manchmal einiges mehr bieten, als bloß ein schärferes Augenlicht.

Was er allerdings nicht in der Lage war zu kontrollieren, war die immer weiter anhaltende Probe – und Konzertfaulheit der Jungs, viele Statistiken, die man sich anfangs hart in Sachen Plattenverkauf erwirtschaftet hatte, sie fielen immer weiter in Richtung Keller, den symbolischen Keller, nicht den realen. Und so kam es auch hier, wie es kommen musste: Da man schon gewisse betriebswirtschaftliche Interessen verfolgte bei einem Konzern wie I.´s, hatte man natürlich nach relativ kurzer Zeit bereits die Firmenleitung auf den Plan gerufen, deren Lösung es wiederum vorsah, ein neues Bandmitglied zu installieren. Man entschied sich in diesem Fall für den schon etwas reiferen Keyboarder Pace, der sich allerdings auch schon nach relativ kurzer Zeit als weniger Harmoniebringendes Neumitglied entpuppen sollte.

Stundenlang stritten Peter, Flocki und Manni über die belanglosesten, irrelevantesten, einfach über alle Themen, die den dreien gerade so durch den inzwischen nicht mehr wirklich musikalisch denkenden Kopf gingen. Was nicht wirklich störte, da erstens Rick den Proberaum kaum noch aufsuchte und zweitens Manni´s Baggervorhaben tatsächlich mit Erfolg gekrönt war.

Man hatte sich ohnehin auf eine zweimonatige, kreative Pause geeinigt, da ein fester Termin bereits ausgewählt war schien es tatsächlich, als wolle man der überstrapazierten Gruppendynamik der Band einfach nur eine kleine Auszeit gönnen. Alleine für Emilia sollte diese Pause wohl das beste sein, denn auch wenn sie sich anhand ihrer neuen Liebe wieder aufzurappeln schien, allerdings merkte man ihr die durch Rick zugefügte Demütigung durchaus noch an, an manchen Tagen sorgte sich ihr neuer Freund doch erheblich, da sie teilweise gar zu depressivem Verhalten neigte.

Der Abend des „Revivals“ war aber dann endlich gekommen. Was für eine Party. Was für ein Konzert. Wie früher war es der Band gelungen, den Laden derartig aufzumischen, das alleine die Zugaben die Dauer eines normalen Konzertes hätten füllen können.
„Champus, zur Feier des Tages“ rief Manni Backstage aus, doch nach Triumphzug sollte ihm schon bald nicht mehr zumute sein. Denn auf der Motorhaube seines Wagens, geparkt vor dem Konzertsaal und in dem er den edlen Tropfen gebunkert hatte, da fand er ein Szenario vor, was er inzwischen nicht mal mehr in seinen Albträumen fürchtete:

Rick. Und Emilia. Stöhnend. Laut stöhnend. Wie geschockt blieb er zuerst einen Moment einfach gebannt stehen, der feige Rick hatte ihn trotzdem direkt bemerkt und suchte sogar mit noch geöffneter Hose einfach schnell das Weite.

Doch überraschenderweise machte Mannie nicht mal den Versuch, ihn irgendwie zu verfolgen, schnurstracks steuerte er auf Emilia zu und gab ihr mit Hasstiraden á la „wie kann man nur so erbärmlich sein. Nur Huren können es. Die billigsten Huren“ in einem halbstündigen Tobsuchtsanfall den Rest. Den endgültigen Rest.

Denn es sollte die letzte Demütigung sein, die für sie noch zu ertragen war, eine Überdosis Schlaftabletten in Verbindung mit Alkohol waren ihr Mittel, mit dieser Quiälerei nicht länger umgehen zu müssen.

Und natürlich das endgültige aus für die Band.
„Es hätte so schön werden können“, seufzte Flocki, immer noch in seinem Bart zwirbelnd, wissend: Er würde den Proberaum nach dem heutigen Tage nie wieder betreten.

Er könnte es weder. Noch wollte er es wohl.

Summary

Über eine Band. Ihren Aufschwung. Und ihren tiefen Absturz.

Authors

pacavelipacaveli

Idea

Proberaum