15 Minuten

15 Minuten
Der Stuhl unter ihm knirschte als David sich setzte. Unschlüssig, ob er doch lieber hätte stehen bleiben sollen, stütze er seinen Kopf auf die Hände. Er schloss die Augen. Er dachte an Marie, seine Freundin. Und an das, was passiert war. Es war, als ob es gestern gewesen wäre. Maries Unfall. 11 Monate würden heute ein Ende nehmen. 11 Monate voller Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung.
Er atmete tief ein und aus. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und kranken Menschen gelangte in seine Nase. Aber so war er nun mal; der typische Geruch eines Krankenhauses. David hasste diesen Ort. Diese Hektik. Diesen Gestank. Diese vielen hoffnungsvollen oder auch hoffnungslosen Menschen.
David musste unwillkürlich an seinen Großvater denken. Als David das letzte Mal in einem Krankenhaus war, sollte dieser nämlich operiert werden. Routineeingriff. Was niemand vorher wusste: Er würde nicht mehr aus der Narkose erwachen. Von diesem Tag an glaubte David nicht mehr an Wunder.
Aber was waren denn schon Wunder? Wenn man im Lotto gewann? Wenn man nach Jahren der Arbeitslosigkeit einen Job fand? Oder einfach nur, wenn man eine Sternschnuppe sah? Vielleicht konnte man dies alles schon als Wunder bezeichnen. Aber David brauchte ein noch viel größeres. Denn was auch immer es gab, war machtlos. Nichts hatte sie zurückholen können. Nicht einmal er. Die Verzweiflung hatte oft an ihm genagt, wie auch der Zahn der Zeit. Die Welt hatte sich geändert. Nur sie nicht. Ihre Welt war gleich geblieben, voller Hoffnung und Vertrauen, Glück und Frieden. Jedenfalls glaubte er das.
Ihm gelang es, sich zu konzentrieren auf das Hier und Jetzt. Im Krankenhaus.
Er hörte eine ihm bekannte Stimme. "David?" Er hob den Kopf und erblickte seine Schwester. Der Nachtdienst gestern hatte sie anscheinend mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte. David war sich sicher: Sie war die ganze Nacht bei ihrer besten Freundin geblieben.
Mit ihrem fast schon fahlen Blick, der David nicht wirklich traf, sah sie durch ihn hindurch. "Du kannst jetzt zu ihr. Komm, ich bringe dich." Ihre Augen waren verschmiert. Sie hatte sich Mühe gegeben, die Spuren zu verwischen. David war ihr sehr dankbar dafür.
Sie legte ihren Arm sanft um seine Schulter. Während sie sich in Richtung Intensivstation in Bewegung setzten, merkte David, wie der Klos in seinem Hals immer größer wurde. Alles kam ihm so unwirklich vor. War das wirklich er, der hier um einen besonderen Menschen bangte und war es wirklich seine Freundin, deren Zeit gekommen war? Allein der Gedanke, dass ihr Herz noch heute aufhören würde zu schlagen, machte ihn wahnsinnig. Sie war doch noch zu jung zum sterben. Viel zu jung. Was würde aus ihm werden, wenn sie nicht mehr bei ihm wäre? Er hatte große Angst davor, eines Tages aufzuwachen und sich nicht mehr daran erinnern zu können, wie sie aussah oder wie ihre Stimme sich anhörte. Aber ihm brannte auch noch eine andere, für ihn sehr wichtige Frage auf dem Herzen.
"Jenni?", er blieb ruckartig stehen. Seine Schwester schien überrascht zu sein, seine Stimme zu hören. "Ja?", sie lächelte ihn ermutigend an. "Wenn ich gleich bei ihr bin, im Zimmer, ...allein, und ich mit ihr rede...", Davids Stimme überschlug sich. Er holte zwei Mal tief Luft, schluchzte und setzte seine Frage fort. "...wird sie mich dann hören können?" Jenni schloss kurz die Augen, atmete tief ein und nahm ihren Bruder in den Arm. "David, du weißt doch: Marie liegt zwar in einem Wachkoma, aber die Ärzte gehen davon aus, dass sie Stimmen wahrnimmt. Aber ihre Werte lassen keine Vermutung auf jegliche Gehirnaktivität mehr zu. Sie reagiert einfach nicht." Und David ahnte, was sie sagen wollte. "Wir haben elf Monate alles getan. Und wenn ich gekonnt hätte...Glaub mir, ich hätte mit ihr getauscht." Die beiden waren vor der Eingangstür zur Intensivstation angekommen. Jenni drehte sich zu ihrem Bruder um. "Ich weiß, dass du wütend bist, darüber, dass die Entscheidung über ihr Leben nicht in deiner Hand liegt. Aber sie ist doch noch minderjährig. Und 11 Monate sind eine lange Zeit. Wir haben doch alle gehofft, es würde sich ändern. Aber Wunder geschehen nicht immer, wenn wir sie uns wünschen.....Leider." Jenni öffnete die Tür und reichte David einen Kittel, einen Mundschutz und eine Haube von zweiten Wandhaken. Als er sich komplett eingekleidet hatte, führte Jenni David vor die große, dunkle Tür mit dem kleinen Glasfenster. Durch dieses hatte er in den letzten Monaten schon so oft gestarrt. In die ewige Leere des weißen Raums. Den Blick geheftet an das große Bett, worin Marie wohl ihre letzte Ruhestätte finden sollte. Umgeben von den leisen Piepsgeräuschen der Geräte. Und sie waren auch das einzige, dass andeutete, dass in diesem Körper noch Leben war. Mit der Hand am Türgriff, wollte David den Raum betreten, aber seine Schwester hielt ihn kurz zurück. "In einer Viertelstunde sind ihre Eltern da. Dann wird alles vorbei sein." David biss sich auf die Unterlippe. Genau dies hatte er nicht hören wollen. "Aber ich hab ihr noch so viel zu sagen. Ich..." Jenni sah traurig zu Boden. Auch ihr tat es sehr leid, ihren Bruder so leiden zu sehen, aber wenn sie eins nicht tun durfte, dann war es das: Sie musste ihm beibringen loszulassen. So schwer es ihm und ihr auch fallen würde. "Tut mir leid. Mehr als diese 15 Minuten kann ich dir nicht geben..." Mit diesen Worten lies sie ihren Bruder stehen. Der hatte die Hand immer noch nicht von der Türklinke gelöst. Und als er die Tür jetzt öffnete, wusste er, es wäre das letzte Mal.
Die Zeit lief. Er hatte 15 Minuten, um sich zu verabschieden. 15 Minuten lang ein letztes Mal den Duft ihrer Haut wahrnehmen. 15 Minuten, um ihr zu erzählen, was passiert war in seinem Leben. Und das wichtigste: Er hatte nur 15 Minuten, um für irgendein Wunder zu beten. Obwohl er es schon so oft getan hatte. Aber dieses Mal würden seine Verzweiflung und sein Schmerz noch stärker sein.
Er setzte sich zu Marie an die Bettkante, beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn. Nicht nur das Piepen, sondern auch die Wärme ihrer Haut waren Stiche in sein Herz. Warum nur? Er faltete die Hände um die ihrigen. "Hallo, mein Engel. Da bin ich wieder. Bestimmt hast du mich vermisst." Er küsste ihre Finger, die reglos in seinen lagen. Dann legte er seinen Kopf auf ihren Bauch, ihre Hände immer noch fest in seinen. "Weißt du, was heute passiert ist...Ich bin befördert worden. Jens hat mich zum Personalchef gemacht. Ist das nicht wunderbar? Und weißt du, was viel besser ist... Ich habe jetzt den Schlüssel für unsere Wohnung. Unser neuer Vermieter hat ihn mir heute überreicht..." David hielt inne. Richtete sich auf und schaute in das leblose Gesicht seiner Freundin. Er versuchte darüber nachzudenken, was er grade sagen wollte. Würde sie merken, dass etwas nicht stimmte? Was war, wenn es soweit war, wenn die Geräte ausgestellt werden würden? Würde sie Schmerz empfinden? Und vor allem: Wusste sie, dass sie sterben würde? David brannten so viele Fragen auf der Seele.
Mit seiner rechten Hand fuhr er durch ihr goldblondes Haar, die linke immer noch auf ihren Händen ruhend. "Du darfst nicht sterben, hörst du mich?", flüsterte er in ihr Ohr. "Ich liebe dich doch. ...Wir wollten zusammen ziehen. Vielleicht sogar heiraten und Kinder kriegen, wenn wir älter sind...Und jetzt? Wofür das ganze? Du musst doch kämpfen..." Sollte es das gewesen sein? David schloss die Augen und legte den Kopf auf ihren Brustkorb. "Weißt du noch,...", fing er an "als wir uns kennen gelernt haben? Du warst damals ein ganz schöner Dickkopf. Aber irgendwie hat die Chemie zwischen uns gestimmt. Ich war sofort in dich verliebt, vom ersten Augenblick an. Und ich vermute mal, du warst es auch. Das haben mir deine Augen gesagt. Und was für ein Theater das damals war mit meinen Eltern. Erinnerst du dich daran, als wir bei mir waren und mein Vater einen Aufstand gemacht hat? Du wärst zu jung für mich, hat er gesagt. Aber was sind denn schon fünf Jahre, wenn man sich liebt?" Ohne ihre Hände loszulassen, wechselte David die Seite und schaute ihr nun genau ins Gesicht, jedenfalls konnte er ihr Kinn sehen und die geschlossenen Augen. Dieser Anblick reichte aus, um ihn zurück zu holen in das Hier und Jetzt. In nicht mal mehr einer halben Stunde würden ihre Eltern kommen. Dann würden noch ein paar Formalitäten geklärt und dann würde es so weit sein. Die Beatmungsgeräte, Maries letzte Rettung, würden abgestellt. Nach elf Monaten des Wartens und Hoffens. Wie viele Tage hatte David wohl in den letzten Monaten hier verbracht? Wie viele Stunden gebetet? Wie oft hatte er sich mit seinem Vater gestritten? Ob er nun zufrieden sei. Ob er sich nicht im Geheimen gewünscht hätte, dass sie stirbt. So manches Mal war er unfair zu ihm gewesen, das mochte sein. Aber war es denn nicht auch so? Wie oft hatte er erfahren müssen, dass Menschen gegen ihn waren. Dass er für seine Liebe zu Marie bezahlen musste, und wenn es auch nur sinnbildlich war. Viele hatten behauptet, er würde sie nicht lieben. Aber die 18 Monate, die er mit Marie zusammen war, waren die schönsten seines Lebens. Gewesen. Dann kam der Unfall. Und sein Leben änderte sich schlagartig.
Er schloss die Augen und fing zu weinen. Es war, als ob die Tore zu einem riesigen Stausee voller Gefühle geöffnet wurden. David wollte schreien. Am liebsten die Zeit anhalten oder noch besser: Sie zurückspulen. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Versuchte, sich zu beruhigen. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Und schon gar nicht vor ihr. Er schluckte die Tränen herunter und wischte sich durch das Gesicht. Als er tief einatmete, war es ihm, als ob er ihren Geruch wahrnahm. In seine Nase gelangte der wundervolle Duft von Flieder. Sie liebte ihn. Und er hatte ihr jeden Tag Flieder mit ins Krankenhaus gebracht, in der Hoffnung, dass der ihr bekannte Geruch sie zurückholen würde. Aus ihrer Welt. Aber wo auch immer ihre Seele gerade sein mochte. David wusste, dass sie nicht weit war.
Marie hatte ihn bei allem immer voll unterstützt. "Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen", dieses Zitat von dem Dramatiker Franz Grillparzer war ihr Lebensmotto. Vor dem Unfall und bis vor wenigen Tagen. Und dann brach die Fassade.
"Piep, piep, piep...." Das laute Geräusch schaffte es in Davids Gedächtnis vorzudringen. Er wollte nicht auf die Uhr sehen.
Er umschlang erneut ihre Hände, die mittlerweile ganz heiß waren. Auf ihren Wangen befanden sich seine Tränen. Er wollte sie nicht wegwischen. Nicht jetzt. "Ach, mein Engel. Mein wunderschöner Engel. Du wirst im Himmel die Schönste sein." Er küsste ihre Wange. "Die Klügste." Er küsste ihre Nase. "Die Großzügigste." Er küsste ihre Stirn. "Du wirst mein Engel sein. Mein ewiger Stern." Der Gedanke an einen Himmel und Gott, der sich um sie kümmern würde, tröstete David jetzt. "Versprichst du mir etwas?", fragte David. Er fuhr ihr erneut durch ihr Haar. "Wenn du nicht mehr bei mir bist...", David dachte über das nach, was er gesagt hatte. “Nein", schrie er fast schon. "Nein.", jetzt etwas leiser. "Was rede ich da. Natürlich wirst du bei mir sein. Immer; alle Zeit. Fest in meinem Gedächtnis. Und in meinem Herzen.", sagte er fast schon im Flüsterton. "Du musst mir versprechen, dass du mich nicht vergisst. Leg ein gutes Wort für mich ein. Denk an mich. Und bitte....", er schluckte. "Gib mir die Kraft, das hier durchzustehen." Totenstille. Erst jetzt bemerkte er seine zitternden Hände. Kalt und leicht weiß-blau. Fast schon undurchblutet. Dagegen wirkten Maries Hände in seinen wie wärmende Handschuhe. Vor lauter Ekel, er könnte ihr die Wärme aus ihrem Körper ziehen, lies er ihre Hände jetzt los. David umklammerte nun seine eigenen Arme. Wie ein wiegendes Baby saß er da. Unerbittlich flossen die Tränen. Er fragte sich, wie lange schon? Oder besser, wie lange noch? Wie lange würde es noch dauern? Nicht lange!
Es klopfte. Einmal. Nichts. Zweimal. David hob etwas den Kopf an und brachte einen brummend- schluchzenden Laut zustande. Jenni steckte den Kopf in die Tür. "David?". Seine Augen glitten ins Leere. "David, sie sind da. ...Es wird Zeit." David nahm nichts mehr war. Er beugte sich über Marie, ihre Wangen übersäht mit Davids Tränen. Aber dies änderte nichts an ihrer Schönheit. Er küsste ihren Mund. Jetzt vernahm er Schluchzen im Zimmer. "David." Die Stimme von Maries Vater. "Du kannst hier bleiben, wenn du willst." War er wirklich bereit mit anzusehen, wie seine Freundin starb? "Nein, danke, aber ich glaube, es ist besser, wenn..." Pause. "Wenn ich erstmal frische Luft schnappe. Ich komme wieder..." Wieder eine Pause. "Wenn es vorbei ist." David erhob sich. Ein letztes Mal streifte er die noch warme Hand seiner Freundin. Als er sich von ihr abwandte, spürte er einen kalten Windstoß. Er wusste nicht, ob er es sich einbildete.
Maries Mutter legte ihre Hand behutsam auf seine Schulter. Ihre weinerliche, kratzige Stimme ging unter dem Piepsen der Beatmungsgeräte fast unter. "David, wir sind sehr stolz auf dich. Und auf sie. Für uns...Für uns bist und bleibst du wie unser Sohn." David brachte ein Lächeln zustande. "Danke. Ich weiß das zu schätzen. Sie ist ein wundervoller Mensch. [....] Sie war ein wundervoller Mensch." Mit diesen Worten öffnete er die Tür. Maries Eltern hatten sich mittlerweile an ihr Bett gestellt. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er das Zimmer. Die Leere war immer noch da. Er schloss die Tür leise hinter sich. Davids Schwester hatte sich gegenüber der Tür an der Wand herunter gelassen. Ihr Kopf lag auf ihren Knien. Sie erhob ihn nicht, als David an ihr vorbeiging. Er brachte kein Wort heraus. Seine Gedanken waren bei Marie. Er wollte allein sein. Weit weg von diesem Ort.
Am Ende des Flures sah er Doktor Müller und einige Assistenten auf sich zukommen, auf dem Weg zur Intensivstation. Auf dem Weg zu Marie. Er senkte seinen Blick, damit er ihnen nicht in die Augen sehen musste. Sie gingen an ihm vorbei. Ohne ein Wort. Er fühlte nichts. Sein Kopf war leer. Nur raus. Schmerz. Tränen. Hatte sein Leben noch einen Sinn?

Summary

"In einer Viertelstunde sind ihre Eltern da. Dann wird alles vorbei sein." David biss sich auf die Unterlippe. Genau dies hatte er nicht hören wollen. "Aber ich hab ihr noch so viel zu sagen. Ich..." Jenni sah traurig zu Boden. Auch ihr tat es sehr leid, ihren Bruder so leiden zu sehen, aber wenn sie eins nicht tun durfte, dann war es das: Sie musste ihm beibringen loszulassen. So schwer es ihm und ihr auch fallen würde. "Tut mir leid. Mehr als diese 15 Minuten kann ich dir nicht geben..." Mit diesen Worten lies sie ihren Bruder stehen. Der hatte die Hand immer noch nicht von der Türklinke gelöst. Und als er die Tür jetzt öffnete, wusste er, es wäre das letzte Mal.
Die Zeit lief. Er hatte 15 Minuten, um sich zu verabschieden. 15 Minuten lang ein letztes Mal den Duft ihrer Haut wahrnehmen. 15 Minuten, um ihr zu erzählen, was passiert war in seinem Leben. Und das wichtigste: Er hatte nur 15 Minuten, um für irgendein Wunder zu beten. Obwohl er es schon so oft getan hatte. Aber dieses Mal würden seine Verzweiflung und sein Schmerz noch stärker sein.

Authors

namelessnamelessRank 1

Idea

15 Minuten